: Torpedo gezündet
Die Eisbären Berlin stehen an der Spitze der Deutschen Eishockey-Liga. Systematisch arbeitet Trainer Pierre Pagé am Erfolg
aus Berlin MARKUS VÖLKER
Das Plebiszit beginnt um 22.37 Uhr. 19 Eiskockeyspieler in weiß-blauen Trikots drücken sich an die Bande. Sie blicken auf ihre Richter, die, eine Eisfläche entfernt, über sie abstimmen. „Barta“ ruft das Volk der Eisbären-Fans. Alexander Barta wurde erkoren als bester Spieler. Es gibt an diesem Freitagabend einen 4:1-Sieg gegen die Iserlohn Roosters zu feiern, über die Hähnchen aus dem Sauerland, die nach Spielende gut durch sind. Diesmal findet Barta die Gunst der Anhänger, weil ihm sein erstes Saisontor gelang, am häufigsten aber wollte das Stimmvolk neben Torhüter Richard Shulmistra den Neueinkauf aus der NHL sehen, den Schweden Ricard Persson. Der 33-Jährige führt die Scorerliste der Deutschen Eishockey-Liga (DEL) an. Mit vier Toren und sieben Vorlagen liegt er ganz vorn.
Persson, von den Fans per Zuruf und Akklamation geehrt, stürmt dann immer wie ein geölter Blitz übers Eis und skatet, als habe er noch Bärenkräfte, vor und zurück im gleichen halsbrecherischen Tempo. Der Schwede kostet das kurze Glück des Augenblicks aus, warum auch nicht, hat er doch schon jetzt, nach neun Spielen, mehr Punkte auf dem Konto als in der letzten Saison bei den Ottawa Senators. Da waren es nach 34 Einsätzen nur mickrige neun. In Kanada war Persson aufs Zerstören in brenzligen Situationen abgestellt. In Unterzahl hatte er Penalties zu killen. In Berlin darf er auch stürmen. Und wie.
Die Ausweitung seines Aufgabengebietes erlebt er als Befreiung vom Joch der ewigen Defensive. Er scheint das gesamte Team mitzureißen. Die Eisbären stehen an der Tabellenspitze. Die Trainer, deren Teams gegen die Eisbären ranmussten, loben die Berliner in den höchsten Tönen, von Eishockey vom anderen Stern wurde sogar gesprochen. Andere gaben vor, die Eisbären erreichten bisweilen NHL-Niveau, Roosters-Coach Greg Poss meinte am Freitag, der EHC spiele das derzeit beste Eishockey in der DEL.
Pierre Pagé, Trainer der Berliner, nimmt das Lob der Kollegen dankend entgegen, begeht aber nicht den Fehler, sich auf den Lorbeeren auszuruhen. „Wir brauchen Konstanz“, fordert der 54-Jährige, „über die gesamte Saison, wir müssen auf der Hut sein.“ Pagé ist besessen vom Erfolg. Er will immer gewinnen. Dieses Sieger-Gen versucht er seinen Mannen zu implantieren, den unbedingten Willen zum Erfolg einzugeben. Es scheint zu wirken.
Selbst das Murren der Spieler über stark eingeschränkte Kabinenfeste, wo so mancher Kasten Bier geleert wurde, ist verstummt. Verliert das Team, wie im Pokal gegen Mannheim, greift Pagé zu ungewohnlichen Maßnahmen. Nicht er ging wie üblich zur Pressekonferenz, sondern drei Spieler mussten Rede und Antwort stehen. Pagé gab schließlich doch Flankenschutz, sodass es ihm die Mannschaft nicht krumm nahm, sondern vielmehr einsah, dass auch sie Verantwortung für Niederlagen trägt.
Es liegt in Pagés Verantwortung, dass die Eisbären eine neue Qualitätsstufe zu erklimmen scheinen. Das von ihm bevorzugte flotte Angriffsspiel trägt Früchte. Er legte vor Saisonbeginn besonderen Wert darauf, schnelle Spieler zu verpflichten, die in sein so genanntes Torpedosystem passen. Neben zwei herkömmlichen Angreifern hat auch ein Verteidiger die Aufgabe, offensiv zu arbeiten. Das sorgt für ein Übergewicht im Angriffsdrittel und gilt als Erfolgsrezept der Berliner. „Wir haben uns in der letzten Saison bei den Heimspielen verhalten wie eine Auswärtsmannschaft, viel zu defensiv“, erklärt Pagé den Wandel der Strategie, „das ist nun vorbei, jetzt halten wir den Puck lieber in der Angriffszone, das ist viel einfacher für uns.“
Persson ist das Torpedosystem offenbar auf den Leib geschneidert, wie auch sein neues Umfeld. Berlin erlebt er als kulturellen Zugewinn. „Ich bin kein typischer Eishockeyspieler“, sagt er von sich. Das heißt: Er entspricht nicht den Klischees, die man von den Puckjägern hat. „Ich nehme weder Kautabak, noch spiele ich Golf und höre Heavy Metal.“ Sein Geschmack ist nicht branchenüblich. Er hört gern die von der Kritik gefeierten New Yorker Strokes, die feinen Gitarrenrock spielen. Außerdem kennt er die Berliner Clubszene ein wenig und mag französische Filme mit Anspruch. Neulich liefen die Strokes im Wellblechpalast als Einmarschmusik. Seine Kollegen verzogen die Miene, Persson bekam Lust auf mehr.
„Persson ist eine gute Person“, hat Trainer Pagé gedichtet. „Ich habe noch nie gesehen, dass ein alter Spieler die Strafrunden im Training mit einem jungen gemeinsam lief“, schildert der Frankokanadier eine Trainingsbegebenheit, die Persson Respekt verschaffte. Die Tore taten ein Übriges. Die Eisbären-Fans werden ihn wohl noch oft rufen, nach Spielende, wenn sie ihren Liebling des Spiels wählen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen