: Rückkehr der Politik
Berliner Agenda (5): Es spricht nichts dagegen, gute Ideen vorteilhaft darzustellen. Aber dazu müssen sie erst mal da sein. Höchste „Zeit für Taten“ also – da hat Stoiber Recht
„Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.“ Kurt Tucholsky
Wer in der deutschen Politik nach dem ganz großen Aufbruch ruft, der macht sich ziemlich lächerlich. Nur zu genau haben wir begriffen, wie schwierig alles geworden ist in der modernen Koordinationsdemokratie. Da sind die Zwänge der Koalitionen und der Bundesrat, da gibt es die roten Roben von Karlsruhe und aus Brüssel blaue Briefe, da wachen die mächtigen Interessengruppen über den Status quo, und schwer auf allem lastet die zähe Erfolgsmentalität des alten Westens – Vetospieler, wohin man nur blickt. Nur: Wie soll eigentlich ein Land je von der Stelle kommen, in dem bereits einzelne steuerrechtliche Tatbestände wie das Ehegattensplitting als irreversibel gelten, nur weil sie irgendwann einmal geschaffen wurden?
Im Grunde ängstlich und verzagt sind die vermeintlich so abgezockten Operateure des politischen Geschäfts in ihrer virtuellen Welt der ausgedachten Images. Monatelang haben im Wahlkampf 2002 Akteure und Beobachter begeistert von Politik als „ritueller Inszenierung“ im Zeitalter des „Politainment“ schwadroniert, monatelang hat die allzu ausgeklügelte Selbstdarstellung der politischen Frontleute und ihrer Medienberater die Berichterstattung dominiert. Bloß mit den wirklichen Problemen des Landes und seiner Menschen hatte das alles nicht viel zu tun. So ist der gesellschaftliche Kurswert der Politik nur noch weiter gefallen.
Dabei ist gegen die vorteilhafte Ausleuchtung erfolgreicher Politik oder guter Ideen überhaupt nichts einzuwenden. Politik versteht sich nur in seltenen Fällen von selbst, sie dreht sich ebenso sehr ums Kommunizieren und Erklären, ums Werben und Überreden wie darum, durch faktisches Handeln Tatsachen zu schaffen. Aber es gehört eben beides unbedingt zusammen. Und wo das Abbrennen von Wunderkerzen die Lösung von Problemen ersetzt; wo Politiker den Eindruck hinterlassen, es gehe ihnen mehr um Selbstdarstellung als ums Handeln für ihr Gemeinwesen; wo sie sich zuvörderst der multiplen Dienste williger, aber politikferner „Experten“ für Produktwerbung und Imageberatung, Demoskopie und Public Relations versichern; wo eine normativ desorientierte Korona von Journalisten und Hilfswissenschaftlern sich nur noch dafür interessiert, wie Politiker „medial rüberkommen“ – wo das alles so ist, da sterben irgendwann die Politik und das Politische selbst.
Als eine „great and civilizing human activity“ hat der britische Politikwissenschaftler Bernard Crick die Politik vor vierzig Jahren in seinem (heute erst recht wieder) außerordentlich lesenswerten Buch „In Defence of Politics“ gefeiert. Zu Recht. Denn als soziales Handeln und Praxis des geregelten Interessenausgleichs unter Gleichen, als Verfahren der Zukunftsvorsorge menschlicher Gemeinschaften besitzt die Politik Moralität und Würde aus ganz eigenem Recht – und nicht etwa abgeleitet, nicht weil sie so spannend oder so lustig wäre wie dieser oder jener andere Zeitvertreib. „Politics is politics“, beharrte Crick. So ist es. Aber an die ganz eigene Moralität und Würde ihrer Tätigkeit müssen die Politiker glauben, sonst gehen diese Werte verloren. Wo die Politik die Voraussetzungen dafür untergräbt, nach ihren eigenen, originär politischen Kriterien bewertet zu werden, da trägt sie selbst zu ihrer Abdankung bei. Gibt die Politik Anlass zu der Vermutung, sie nehme sich als Politik nicht mehr ernst, sondern verwechsle sich mit Unterhaltung, mit Werbung oder Entertainment, da wird sie irgendwann auch nicht mehr ernst genommen – übrigens nicht einmal als Unterhaltung.
Wir sind am Ende des image-politischen Irrwegs angekommen, weil die realen Verhältnisse längst überall nach echter Politik als „great and civilizing human activity“ schreien. Alle fundamentalen Daten sind bekannt. Die Sozialversicherungssysteme der Republik werden die Last des demografischen Umbruchs nicht viel länger tragen können. Die Menschen leben immer länger, bekommen aber immer weniger Kinder. Beides zusammen macht das Land schon heute alt; es wird in den kommenden Jahrzehnten noch viel älter werden. Damit sind die Renten nicht mehr sicher, und die Kosten der Gesundheitssicherung werden explodieren. Derweil ist die im Börsenrausch der Neunzigerjahre leichtfertig geweckte Hoffnung auf die kapitalgedeckte Absicherung sozialer Risiken im Meltdown der Aktienmärkte so schnell verdampft, wie sie entstanden war.
Auch die Probleme des Arbeitsmarktes sind weiter ungelöst. Während Millionen von Menschen erwerbslos sind, suchen Unternehmen der zukunftsträchtigeren Branchen vergeblich nach qualifizierten Kräften. Von denen aber bringt das deutsche Bildungssystem viel zu wenige hervor. Sprengstoff birgt die Frage, ob das deshalb entstandene Ungleichgewicht durch den Import qualifizierter Arbeitskräfte zu korrigieren wäre, wo doch zugleich Millionen schlecht ausgebildeter Inländer auf dem Arbeitsmarkt dauerhaft ohne Chance bleiben. Aus diesen Chancenlosen setzt sich das wachsende Segment der systematisch Abgehängten in der Gesellschaft zusammen.
Spektakulär gescheitert ist schließlich auch der seit 1990 unter dem Schlagwort der „inneren Einheit“ betriebene Großversuch, das Volk der untergegangenen DDR rückstandsfrei in der Welt der Westdeutschen aufgehen zu lassen. Wie groß der Fehlschlag ist, belegt die Depression, die heute in den ostdeutschen Ländern herrscht. Gerade angesichts der bevorstehenden Erweiterung der EU ist die Zukunft des ostdeutschen Landesteils völlig ungewiss; die Jungen und Mobilen jedenfalls suchen scharenweise das Weite. Klar ist bei alldem: Je länger die vielen Einzelprobleme ungelöst bleiben, desto heftiger werden sie sich in Zukunft wechselseitig verschärfen. Als „Metaproblem“ gibt dabei der weiter steigende Altersdurchschnitt der deutschen Bevölkerung Anlass zu der Vermutung, dass sich das historische Zeitfenster für die dringend nötigen Strukturreformen nicht mehr lange offen stehen wird.
Höchste „Zeit für Taten“ also – damit zumindest hatte Edmund Stoiber im Wahlkampf durchaus Recht. Genau vier Jahre Bewährungsfrist bleiben der rot-grünen Koalition, um die soziale Modernisierung der deutschen Gesellschaft und ihrer Institutionen auf den Weg zu bringen. Ohne die Rückgewinnung des Vertrauens darauf, dass schöpferische Politik im Crickschen Sinne möglich ist, wird das jedoch nicht gelingen. Wollen die Koalitionsparteien nicht untergehen, werden sie sich den Kleinmut und die triviale Imagepolitik der jüngsten Vergangenheit nicht mehr leisten dürfen. Es wäre kein Verlust. Und ohnehin: Sobald sich handfeste politische Erfolge einstellen, wird an ungestellten Bildern stolzer Politiker inmitten glücklicher Menschen kein Mangel mehr sein. Dann endlich kommen Realität und Image ganz von selbst zur Deckung. Bis es so weit ist, muss gearbeitet werden. TOBIAS DÜRR
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