: Ein Häuschen am Shannon
aus Carrick-on-ShannonRALF SOTSCHECK
„Endlich hat sich die Stadt mit dem Fluss angefreundet“, sagt Joseph Gilhooly. „Früher wurden alle Häuser mit dem Rücken zum Shannon gebaut, man ignorierte den Fluss, weil man kein Potenzial in ihm sah. Heute nutzen ihn nicht nur Touristen, sondern auch die Einheimischen.“
Gilhooly, ein trotz der späten Hitzewelle korrekt mit Krawatte gekleideter Mittvierziger, ist im Landratsamt von Carrick-on-Shannon für Unternehmensentwicklung zuständig. In den vergangenen sieben, acht Jahren hatte er viel zu tun.
Carrick-on-Shannon ist die Hauptstadt der kleinen Grafschaft Leitrim im Nordwesten Irlands. „Der Aufschwung ist überall in der Stadt zu sehen“, sagt Gilhooly. „Die neuen Wohnsiedlungen am Fluss, die neuen Ladenzeilen in der Innenstadt und die neuen Unternehmensgebäude am Stadtrand. Ohne die Programme für unterentwickelte Regionen und die Gelder, die aus Brüssel dafür zur Verfügung gestellt werden, hätte es das alles nicht gegeben. Das ist unser Glück.“
Dabei hatte Leitrim eigentlich nie Glück. Die geografische Lage und die historischen Ereignisse haben der Grafschaft mehr zu schaffen gemacht als den meisten anderen Regionen der Insel. Beim Aufstand gegen die britischen Besatzer verbündete man sich 1798 mit den französischen Truppen und unterlag. Der britische Kommandant Lord Cornwallis befahl den 200 gefangenen Rebellen im Gerichtssaal von Carrick-on-Shannon Lose zu ziehen. Darunter waren 17 Nieten. Wer sie zog, wurde auf dem Kasernenhügel gehängt.
Gut 50 Jahre später kam die Hungersnot, weil die Kartoffelernte in drei aufeinander folgenden Jahren verfault war und die Briten weiterhin Getreide und Vieh aus Irland exportierten. Ein Drittel der Bevölkerung Leitrims verhungerte, die Einwohnerzahl sank auf 112.000. Und als der nordirische Konflikt Ende der Sechzigerjahre ausbrach, schloss die britische Armee die Nord-Süd-Verbindungsstraßen. Leitrim war seines Hinterlandes beraubt, die ökonomischen Folgen waren verheerend, den jungen Leuten blieb nur die Emigration. Heute liegt die Einwohnerzahl bei 26.000, die Bevölkerungsdichte beträgt 16 Menschen pro Quadratkilometer. Das ist nicht mal ein Drittel des irischen Durchschnitts, der ja auch nicht sonderlich hoch ist.
Dann, 1994, kam die Wende. „Der nordirische Friedensprozess hat in Leitrim viel bewirkt“, sagt Gilhooly. „Vor allem für den Norden der Grafschaft war es ein Segen, die Straßen waren wieder offen, und die Eröffnung des Erne-Shannon-Kanals hat Carrick-on-Shannons Attraktivität für Touristen erhöht.“ Die Kosten von 30 Millionen Pfund für die Renovierung des bereits1860 gebauten Kanals wurden zum Teil von der Europäischen Union bezahlt.
Seitdem können die Kabinenkreuzer nicht nur die 258 Kilometer auf dem Shannon nutzen, sondern durch den Kanal weiter in den Lough Erne in Nordirland schippern. Carrick-on-Shannon sei die „Kreuzfahrthauptstadt“ des Shannon, behauptet das Fremdenverkehrsamt. Die Stadt hat einen neuen, modernen Hafen bekommen, der direkt vor dem Landratsamt liegt.
Aber es sind nicht nur Bootstouristen, die nach Leitrim kommen. Die Auswanderung konnte gestoppt werden, eine ganze Reihe von Emigranten sind zurückgekehrt. Fiona Moran ist in Dublin geboren, aber ihre Familie stammt aus Leitrim. Ihr Großvater hat im Unabhängigkeitskrieg 1920 gekämpft, ihre Großmutter brachte es im Camogie, einem irischen Nationalsport, zu einem gewissen Bekanntheitsgrad.
Fiona, eine rundliche 49-Jährige mit kurzen, braunen Haaren, hat zehn Jahre lang in Entwicklungsländern gearbeitet. Jetzt hat sie sich in einem Vorort von Carrick ein kleines Haus gekauft – für 20.000 Euro. „Das Haus war baufällig, und ich musste noch mal das Doppelte hineinstecken“, sagt sie. „Aber für diesen Preis hätte ich in Dublin nicht mal eine Schlafnische bekommen.“
Für zwei Tage in der Woche muss sie immer noch in die Hauptstadt, weil sie ein Aufbaustudium absolviert. Danach will sie sich endgültig in Leitrim niederlassen. „Es tut sich sehr viel in Carrick-on-Shannon“, sagt sie, „die Stadt ist richtig aufgeblüht. Es gibt genügend Arbeitsplätze, aber auch kulturell ist einiges los, seit sich viele Künstler angesiedelt haben. Der wichtigste Grund für den Aufschwung ist das ländliche Erneuerungsprogramm der Regierung.“
Das „Rural Renewal Scheme“, das gerade um zwei Jahre verlängert wurde, räumt Leitrim und drei anderen unterentwickelten Regionen Steuervorteile beim Hausbau ein. Das gilt sowohl für Geschäfte als auch für Privathäuser. „Auf dem Land dauert es noch etwas, bis das Programm Wirkung zeigt, aber in Carrick-on-Shannon funktioniert es bereits“, sagt Gilhooly. „Früher gingen bei uns Bauanträge für einzelne Häuser ein, jetzt sind es Siedlungen von 75 Häusern. Auf der anderen Seite des Flusses bauen sie gerade 150 Häuser.“
Das Programm wird von Brüssel unterstützt, Leitrim ist Ziel-eins-Region, und so sieht man die EU mit Wohlwollen in Carrick-on-Shannon. An den Laternen der kurzen Hauptstraße hängen Plakate, die für eine Jastimme beim Referendum über den Vertrag von Nizza am 19. Oktober werben. In den zweistöckigen, bunt angemalten Häusern der Geschäftsstraße sind Schuhgeschäfte und Boutiquen, ein Schönheitssalon und ein Sonnenstudio, ein chinesisches und ein indisches Restaurant untergebracht. Obwohl die Straße nur wenige hundert Meter lang ist, beherbergt sie neun Kneipen.
Am nördlichen Ende stößt die Straße auf den Market Yard, der an drei Seiten durch renovierte graue Natursteingebäude begrenzt wird. Der Platz ist mit Kopfsteinpflaster ausgelegt, in der Mitte steht ein moderner Brunnen. Früher wurden die Gebäude als Lagerhallen genutzt. Der Markt war ein Parkplatz, bis er gesperrt werden musste, weil die Autos durch herabfallende Dachziegel beschädigt wurden.
„Vor drei Jahren hat die Stadtverwaltung mit EU-Unterstützung den Marktplatz gekauft“, sagt John Bredin. Der 55-jährige stammt aus Nord-Leitrim, lebt aber seit fast 50 Jahren in Carrick-on-Shannon. Er arbeitet beim Stadtrat und hat das Market-Yard-Projekt von Anfang an betreut. „Es ist zu einem Schmuckstück für die Stadt geworden“, sagt er. „Wir haben darauf geachtet, dass ungewöhnliche Geschäfte dort einziehen, damit sie den Geschäften an der Hauptstraße keine Konkurrenz machen – eine französische Brasserie, eine Weinhandlung, ein Geschäft für Bleikristall.“
Ken Cunningham arbeitet an einem Kerzenständer aus Kristall, die Kundschaft kann ihm bei der Arbeit zuschauen. Er ist 42 und seit 27 Jahren in dem Geschäft, zuerst in Waterford in der berühmtesten irischen Kristallwarenfabrik. „Ich wollte immer in einem handwerklichen Beruf arbeiten“, sagt er. „Im Schreiben und in Sprachen war ich in der Schule ein Versager.“
Vor drei Jahren beschloss er, sich selbstständig zu machen. „Meine Frau Sandra und ich haben uns im ganzen Land umgesehen, aber wir kamen immer wieder auf Carrick-on-Shannon zurück“, erzählt er. „Es herrscht eine besondere Atmosphäre in dieser Stadt, sie ist nicht zu groß, man lernt schnell Leute kennen.“ Und das Geschäft läuft inzwischen gut. „Unsere Kundschaft ist hauptsächlich einheimisch, erst in zweiter Linie aus England, den USA und Europa.“ Die Präsidentin Mary McAleese hat bei ihm eingekauft, verschiedene Kongressabgeordnete aus Washington und neulich hat der Fußballclub Celtic Glasgow eine große Trophäenschale mit Gravur bei ihm bestellt.
Seine Entscheidung für Carrick-on-Shannon ist zwar von den Steuervorteilen für benachteiligte Regionen beeinflusst worden, aber Cunningham sieht sogar einen Standortvorteil: „Für unser Geschäft ist die Lage einmalig. Unser Laden liegt am historischen Market Square im Zentrum, wir sind an der Hauptstraße in den Nordwesten, und nach Dublin sind es nur gut zwei Stunden.“
Bredin hat bereits ein neues Projekt in Angriff genommen. Die St.-Georgs-Kirche an der Hauptstraße soll zu einem Gemeindezentrum ausgebaut werden. „Im 17. Jahrhundert war die Stadt zu 99 Prozent protestantisch, heute sind es noch 15 Prozent. Sie können nicht genügend Geld für den Unterhalt der Kirche aufbringen, deshalb haben wir sie für 99 Jahre gemietet.“
Und aus dem alten Gerichtsgebäude, in dem vor 200 Jahren die tödliche Lotterie stattfand, soll im nächsten Jahr für 7,4 Millionen Euro ein Kulturzentrum mit Theatersaal, Galerien, Workshops und Café werden. „Es herrscht Optimismus in Leitrim“, sagt Bredin. Zum ersten Mal seit 160 Jahren steigt die Bevölkerungszahl der Grafschaft, wenn auch nur um bescheidene 3 Prozent seit 1996. Fast 26.000 Menschen leben in Leitrim, wie die Volkszählung im Frühjahr ergab.
Für das Wachstum ist vor allem Carrick-on-Shannon verantwortlich, die Stadt ist um 24 Prozent größer geworden und hat 2.664 Einwohner. „Das ist eine positive Wende aufgrund all der neuen Projekte“, sagt Padraig Glancy, der Präsident der Handelskammer. „Seit es den ländlichen Erneuerungsplan gibt, wächst die Stadt. Und mit MBNA wird sie weiterwachsen.“
Der US-amerikanische Kreditkartenmulti MBNA hat am Stadtrand einen modernen Flachbau mit gläsernen Oberlichtern und Säulenportal errichtet. 400 Menschen arbeiten hier. Nebenan entsteht ein weiterer Bau, wo noch einmal 400 Leute in den nächsten fünf Jahren eingestellt werden sollen. „Bei MBNA und dem anderen großen Arbeitgeber, der Baustofffirma Masonite, sind dann 1.250 Menschen beschäftigt“, sagt Gilhooly. „Der Nachteil ist, dass wir dann stark abhängig von diesen beiden Firmen sind. Wenn es bei denen wirtschaftlich nicht gut laufen sollte, sind wir geliefert.“ Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass die Gelder aus Dublin weiter so reichlich fließen. Der Boom ist vorbei, der Staat musste sich zum ersten Mal seit zehn Jahren neu verschulden, mit einem Aufschwung ist vorerst nicht zu rechnen. „Wir hoffen“, sagt Gilhooly, „dass wir etwas in Gang gesetzt haben, das bald auch ohne Subventionen nicht aufzuhalten ist.“
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