Suche nach dem Unsagbaren

Raul Hilberg ist ein Künstler der Interpretation schwieriger Quellen und macht selbst Reichsbahnfahrpläne zu beredten Zeugnissen des Holocaust

von MICHAEL WILDT

Es gibt eine eindringliche Szene in Claude Lanzmanns Film „Shoah“, in der Raul Hilberg einen Fahrplan der Deutschen Reichsbahn erklärt. Ein nüchtern-bürokratisches Dokument über den Zugverkehr zwischen Warschau und Treblinka am 30. September 1942. Ein langer Zug: „50 G“, 50 Güterwaggons. Um 11.42 Uhr Ankunft in Treblinka, um 15.59 Uhr Rückfahrt nach Warschau für einen erneuten Transport. Nun steht nach der Nummer des Zuges ein „L“, ein unscheinbares Kürzel für die Tatsache, dass der Zug leer war. Kein weiterer Hinweis auf die tausende Menschen, die in den Tod transportiert wurden. Normaler Zugverkehr, bürokratischer Alltag.

Man wird, so schreibt Raul Hilberg in seinem Buch über die Quellen des Holocaust, in den Archiven keinen Ordner mit der Aufschrift „Juden“ finden. Was über die Vernichtung der europäischen Juden in Erfahrung gebracht werden kann, ist zu einem großen Teil in solchen scheinbar harmlosen Dokumenten wie Fahrplänen zu finden. Man muss sie nur zu lesen verstehen.

Hilbergs Buch ist ein Führer durch das Labyrinth des Archivs, allerdings kein Handbuch im herkömmlichen Sinn, vielmehr ein persönlicher Wegweiser, der zugleich Einblick in seine Arbeitsweise gibt. Hilberg gliedert seine Quellenkunde weder nach den klassischen Prinzipien historischer Quellenkritik noch entlang diskursanalytischer Überlegungen. Die Intensität, mit der sich Hilberg zeitlebens den Dokumenten des Holocaust gewidmet hat, klingt in der fast literarischen Ordnung des Buches an. „Typen“, „Komposition“, „Stil“, „Inhalt“ und „Nutzbarkeit“ sind die fünf Kapitel überschrieben, in denen Hilberg die Quellen vorstellt, die für seine Arbeit wichtig waren.

Er führt uns dabei in die deutschen Amtsstuben, erläutert die Unterschiede zwischen Gesetzen, Erlassen, Durchführungsbestimmungen, Anordnungen und Verfügungen, weist auf die hierarchischen Abstufungen hin, ob jemand mit „i. A.“ oder mit „i. V.“ unterzeichnen durfte oder die Randbemerkungen mit grünem, rotem oder violettem Stift geschrieben wurden. Bürokraten waren die Exekutoren der „Endlösung“; deutsche Beamte stellten die Fahrpläne zusammen, registrierten die Vermögen der ermordeten Juden sorgfältig und achteten darauf, dass vor der Deportation noch die Gas- und Wasserrechnung bezahlt wurde. Die bürokratische Form verdeckte das Ungeheuerliche, und doch ermöglichte gerade sie es, den Massenmord zu praktizieren. Wo wie bisher nach den vertrauten Regeln weitergearbeitet wird, muss sich keiner Gedanken machen, was sich hinter den Zugnummern verbirgt. Begriffe wie „Sonderbehandlung“ und „Aussiedlung“ dienten dazu, das Exzeptionelle als Normalität, die Beteiligung an den Verbrechen als Erledigung von Aufgaben erscheinen zu lassen. Die Idee einer Problemlösung, schreibt Hilberg, zieht sich wie eine roter Faden durch die Akten der Bürokratie. „Reibungslos“ war ein Lieblingswort.

Zuweilen findet sich aber auch der Eifer. Stolz betonte der Leiter der Städtischen Leihanstalt Dortmund im August 1941, dass spätere Forscher, denen Juden nur noch vom Hörensagen bekannt sein dürften, erkennen würden: Such die deutschen städtischen Pfandleihanstalten haben das Ihre zur „Lösung der Judenfrage“ beigetragen.

Gegen diese herrenmenschliche Selbstzufriedenheit stehen das Entsetzen, die Verzweiflung in den Zeugnissen der Opfer. Als der Vorsitzende des Warschauer Judenrats, Adam Czerniaków, 1942 erfuhr, dass die Deportationen unmittelbar bevorstanden, bricht sein Tagebuch ab. Am folgenden Tag nahm er sich das Leben. Andere versuchten, möglichst sachlich die Situation in den Ghettos zu schildern. Rudolf Vreba, dem die Flucht aus Auschwitz gelang, spickte seinen Bericht mit Zahlen, Daten, Listen, um die Welt nicht mit seinen Erlebnissen, sondern durch unbestreitbare Fakten von der Wirklichkeit des Todeslagers zu überzeugen.

Und doch bleibt Unsagbares, Unfassliches zurück. Der Wiener Psychiater Viktor Frankl, der Theresienstadt, Auschwitz und ein Außenlager von Dachau überlebte und unmittelbar nach der Befreiung seine Erlebnisse niederschrieb, wurde fast neunzig Jahre alt, bevor er ein zweites Buch publizierte, das den Titel trug: „Was nicht in meinen Büchern steht“. Primo Levi, dem wir sicherlich die tiefsten Einblicke in die grauenvolle Welt des Lagers verdanken, verzweifelte an seinen Erinnerungen und stürzte sich in den Tod.

Historische Quellen sind stets Fragmente; nie lässt sich aus ihnen die Vergangenheit vollständig herauslesen. Raul Hilberg weist in seinem Buch immer wieder auf die Grenzen hin, auf die Irrwege falscher Eindeutigkeit gerade bürokratischer Dokumente, deren Diktion Präzision und Klarheit vortäuschen. Für zentrale Bereiche fehlen jegliche Akten. So existieren zum Beispiel auf Hitlers Weisungen zum Mord an den europäischen Juden nur vage Hinweise in den Unterlagen Dritter. Holocaust-Forscher sind daher darauf angewiesen, aus abgelegensten Quellen ein Bild zusammenzusetzen, aus Konturen die Gestalt sichtbar zu machen.

Hilberg selbst ist zweifellos vom Wort, vom Text gebannt. Der Oral History misstraut er zutiefst und auch den visuellen Quellen kann er nur wenig abgewinnen. Damit sind zugleich die Grenzen seines Forscherblicks abgesteckt, der auf den bürokratischen Prozess, auf den administrativen Apparat konzentriert ist, der den Massenmord möglich machte. Die Bilder hingegen erzählen eigene Geschichten, die Hilberg nicht interessieren. Im Zentrum seiner Arbeit steht die Akte, deren Interpretation Hilberg zu einer kaum erreichten Kunst erhoben hat. So ist dieses Buch nicht allein ein kundiges, unerlässliches Vademekum zu Quellen des Holocaust, es ist ebenso beredtes Zeugnis einer jahrzehntelangen Forscherpassion, die ihresgleichen sucht.

Raul Hilberg: „Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren“. Übersetz. v. Udo Rennert, S. Fischer, Ffm 2002, 256 S., 22,90 €