„Natürlich bist du Europäer“

Es war der Wunsch der USA, dass die Türkei EU-Mitglied wird

Moderation DANIELA WEINGÄRTNER

taz: Herr Voggenhuber, Sie sind gegen einen Beitritt der Türkei in die EU. Spielt da das alte Trauma eine Rolle – die Türken vor Wien?

Johannes Voggenhuber (lacht): Wir bildeten zwar den äußersten Rand des osmanischen Reiches. Aber wir haben später nur davon profitiert – einschließlich des ausgezeichneten Wiener Kaffees. Ein Trauma haben also allenfalls die zu bewältigen, die glauben, sie müssten Europa vor dem Islam schützen. Aber das ist nun wirklich nicht mein Problem.

Was ist Ihr Problem?

Johannes Voggenhuber: Ich will eine politische Union, die mehr ist als nur eine Freihandelszone. Zur politischen Einheit gehört das Territorialprinzip, dafür braucht es Grenzen. Weniger nach außen, als vielmehr für uns selbst. Nach innen. Nur dann kann die politische Union glaubhaft und legitim verwirklicht werden. Hinzu kommt, dass Europa gegenüber Syrien, Irak und Iran eine regionale Großmacht würde – in einem Raum also, in dem jede Legitimation für eine solche Rolle fehlt. Manche gehen ja sogar so weit und sagen, der territoriale Zusammenhalt kümmert uns nicht. Warum nehmen wir dann nicht Südafrika auf oder Israel?

Herr Ceyhun – endet Europa am Bosporus?

Ozan Ceyhun: Ich finde diese ehrliche Haltung gut. Viele denken das gleiche, gehen aber nicht ehrlich mit der Türkei um. Lieber solche Gegner als Freunde, die in Wirklichkeit Gegner sind. Aber zu Ihrer Frage: Ein Teil unseres Staatsgebiets liegt in Europa, das wird niemand bestreiten. Und was spielt dies für eine Rolle, wenn wir andererseits guten Gewissens Zypern zu Europa rechnen. Da könnte man doch genauso fragen, was wir im Mittelmeerraum für eine Legitimation haben.

Johannes Voggenhuber: Es war nie der Wunsch Europas, dass die Türkei Mitglied wird. Es war ein Wunsch der Amerikaner. Zum einen, um den wichtigen geostrategischen Partner Türkei zu belohnen und zum zweiten, um die europäische Integration zu schwächen. Europa einen Beitritt aufzuzwingen, den es nicht verkraften kann, wäre eine sanfte aber geniale Strategie, um das zu erreichen.

Herr Ceyhun, was sagen Sie denn zu dieser Verschwörungstheorie?

Ozan Ceyhun: Ich weiß, dass es in den USA Leute gibt, die ein großes Interesse daran haben, dass die Türkei eines Tages Mitglied wird, weil sie dann „pflegeleichter“ für die Amerikaner wäre, das ist vollkommen richtig. Man könnte es aber auch anders herum sehen: Eine von Europa enttäuschte Türkei nähert sich eher an die USA an, kauft vielleicht keine deutschen Panzer mehr, sondern kommt mit amerikanischen Waffenhändlern ins Geschäft.

Johannes Voggenhuber: Politik ist Verschwörung! Ich habe vor dem Vorwurf, ein Verschwörungstheoretiker zu sein, keine Angst. Die USA haben in diesem Raum gewaltige geostrategische Interessen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion möchten die USA Europa bei den Turkstämmen im Bauchraum des russischen Bären zu einer regionalen Ordnungsmacht entwickeln – natürlich unter seiner Vorherrschaft. Etwas nüchterner formuliert: Wir sollen künftig dafür sorgen, dass regionale Konflikte in Usbekistan, Georgien und auch Tschetschenien unter Kontrolle bleiben. Das ist nicht unser Interesse. Die Außenpolitik der Türkei ist ein Albtraum von 360 Grad, hat mal jemand gesagt. Alle türkischen Außengrenzen, außer dem kurzen Stück zu Europa hin, sind potenzielle Krisenherde. Das wollen wir nicht erben.

Wenn wir geostrategische Fragen mal beiseite lassen, wie sieht es denn mit der kulturellen Integrationsbelastung aus? Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hat die provokative Rechnung aufgemacht, dass ein Neumitglied Türkei im Jahr 2012 immerhin 90 Millionen Einwohner hätte – das wäre das größte EU-Mitgliedsland.

Ozan Ceyhun: Wir haben es dann mit höchstens 70 Millionen Menschen zu tun, nicht mehr als Frankreich oder Großbritannien. Was die Integrationsfähigkeit betrifft, so sprechen wir nicht vom Ist-Zustand. Die Türkei hat noch einen weiten Weg vor sich, bis sie Mitglied werden kann. Die Tatsache, dass dort Orient und Okzident aufeinander treffen, macht alles ein bisschen komplizierter. Wenn aber die Staatschefs beim Gipfel Ende des Jahres ein Datum nennen würden, zu dem Verhandlungen beginnen, würde das einen starken Reformimpuls auslösen.

Johannes Voggenhuber: Würde man sagen, dass die Türkei zu Europa gehört, sind wir ohne Antwort gegenüber Russland. Die Türkei hat eine Pfote auf dem europäischen Kontinent, Russland hat seinen Kopf in Europa. Und was ist mit der Ukraine, mit Weißrussland? Die einst durch die Sowjetunion von Europa abgetrennten Teile werden entweder eine europäische Perspektive haben oder als irrlichternde, dahintreibende, von Nationalismus und Instabilität gefährdete Staaten zur nachbarschaftlichen Bedrohung. Türkei anstatt Balkan, Ukraine und Weißrussland – das kann ich nicht akzeptieren. Und der Balkan! Der Balkan ist in Wahrheit – und da sind wir beim Verlogenheitskapitel Nummer zwei – die höchste Integrationsaufgabe Europas, der es sich bisher nicht gestellt hat. Hätte es das getan, wäre der Balkankrieg wahrscheinlich zu verhindern gewesen. Exjugoslawien wurde dem Zerfall und dem Nationalismus preisgegeben. Der Balkan beantwortet auch die Frage nach der Integration des Islams. Der Islam hat eine große Geschichte in Europa, er gehört zu Europa, und es ist abwegig zu meinen, wir könnten eine katholisch-protestantische Welt beschwören. Der Islam ist eine kleine und bedrohte Kultur auf dem Balkan, hier haben wir unsere Integrationsaufgabe zu leisten.

Ozan Ceyhun: Es gibt derzeit 13 Kandidatenländer. Für diesen Integrationsprozess brauchen wir ewig – 20 bis 30 Jahre mindestens. Selbst wenn die Türkei aus irgendeinem Grund den Zug verpassen würde, ließe sich dieser Prozess nicht beschleunigen. Dass dann irgendwann in der Zukunft, auch der Balkan in die EU kommen muss, sehe ich vollkommen ein. Wenn man für den Balkan eine gesunde Lösung finden will, muss man auf die Türkeifrage erst eine Antwort haben. Zu glauben, man könne auf dem Balkan Frieden schaffen, ohne vorher die Türkeifrage zu lösen, ist eine naive Erwartung.

Johannes Voggenhuber: Also bitte, es ist mit der Türkei in der Nato noch nicht einmal gelungen, das Zypernproblem zu klären.

Herr Voggenhuber, im Klartext: Sie wollen, dass die Türkei den Kandidatenplatz räumt – zugunsten der Länder des ehemaligen Jugoslawiens?

Johannes Voggenhuber: In Helsinki 1999 wurde die historische Fehlentscheidung getroffen, die Türkei als offizielles Kandidatenland anzuerkennen. Ich behaupte: Es gab nie die Absicht, dieses Versprechen einzulösen, sondern es ging lediglich darum, den strategisch wichtigen Nachbarn ruhig zu stellen. Diese Täuschung hat in der Türkei zu außerordentlichen politischen Anstrengungen und gesellschaftlichen Veränderungen geführt. Nun ist eine Situation entstanden, wo es nicht mehr nur um Ehrlichkeit geht, sondern um Vertragstreue. Das macht die Situation so verzweifelt und die Argumentation von Tag zu Tag noch verlogener. Die EU hat das zu klären. Sie darf nicht die Türkei in ein Verhältnis des ewigen Lernens schicken, des ewigen Mühens – wissend, dass es doch vergeblich ist.

Ozan Ceyhun: Die EU hat eine Entscheidung getroffen. Der Türkei ist gesagt worden: Sobald ihr die Kopenhagener Kriterien erfüllt und eure Wirtschaft in Ordnung bringt, seid ihr herzlich willkommen. Dieses Versprechen datiert ja nicht erst vom Helsinki-Gipfel 1999. Das ist schon in der Zeit des kalten Krieges gesagt worden – von den Christdemokraten, die in Wahrheit nie daran gedacht haben, ein Land mit einer muslimischen Mehrheit aufzunehmen. Leute wie Helmut Kohl haben die Türkei immer reingelegt. Wenn wir allein an die Zollunion denken – die Türkei ist das einzige Land, mit dem die EU eine solche Vereinbarung getroffen hat. In Helsinki haben Joschka Fischer, Gerhard Schröder und viele andere gesagt: Wir müssen dem Land endlich eine reale Chance anbieten. In der Türkei hätte man nie die Todesstrafe abgeschafft und kurdischen Sprachunterricht erlaubt, wenn in Helsinki nicht eine richtige Beitrittsperspektive geschaffen worden wäre.

Johannes Voggenhuber hat nicht gesagt, die Türkei wird es nie schaffen, die Kriterien zu erfüllen. Er argumentiert nicht aus türkischer Perspektive, sondern aus Brüsseler Sicht. Er sagt: Es macht die EU kaputt.

Ozan Ceyhun: Vier Millionen Menschen aus Anatolien sind inzwischen in die EU eingewandert. Ich habe in der Türkei das österreichische Sankt-Georg-Gymnasium besucht und bin in Istanbul als Europäer erzogen worden. Ich musste selbst Immigrant in der EU werden, um zu erfahren, dass die Türkei angeblich nicht zu Europa gehört. Natürlich ist aus meiner eigenen biografischen Erfahrung heraus diese These absurd.

Johannes Voggenhuber: Natürlich bist du ein Europäer. Aber das gilt eben nur für eine kleine intellektuelle Oberschicht in deinem Herkunftsland. Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung würde dir in diesem Gefühl nicht folgen.

Ozan Ceyhun: Die Türkei wird von dieser Elite regiert. Die Armee spielt eine wichtige Rolle, dass diese europäische Elite überhaupt regieren kann – das räume ich ein. Aber die Mehrheit im Land, die anders denkt, würde nicht das Ende der EU bedeuten. Sonst müssten auch die starken orthodoxen Einflüsse in Griechenland, in Bulgarien oder Rumänien die Union sprengen. Manche Ecken Portugals oder Italiens gehören auch nicht zu dieser europäischen Wertegemeinschaft, die Johannes Voggenhuber hier beschreibt.

Eine von der EU enttäuschte Türkei nähert sich den USA

Herr Ceyhun, eine halbe Million türkischstämmige Deutsche hat am 22. September gewählt – viele davon Rot-Grün. Erwarten Sie als Gegenleistung, dass Gerhard Schröder die Staatschefs drängt, ein Datum für Verhandlungen zu nennen?

Ozan Ceyhun: Ein solches Wahlversprechen hat es nicht gegeben. Diese Wähler haben rot-grün bevorzugt, weil Edmund Stoiber ähnliche Positionen vertritt wie Johannes Voggenhuber – was die Türkeifrage betrifft. Stoiber hätte versucht, Helsinki zu revidieren. Aus dem gleichen Grund werden die türkischstämmigen Wähler in Österreich nicht Haider wählen, sondern Johannes Partei oder SPÖ.

Johannes Voggenhuber: Was meine Nähe zu Stoiber betrifft – in dieser Frage gibt es tatsächlich die skurrilsten Allianzen, die man aber entschlüsseln muss. Wenn Länder wie Großbritannien oder die Skandinavier den Beitritt der Türkei befürworten, dann wollen sie damit doch nur den europäischen Bundesstaat für alle Zeiten unterbinden. Wir stehen im Verfassungsprozess. Wir versuchen verzweifelt – und ein Scheitern ist wahrscheinlicher als ein Gelingen – ein Mindestmaß an sozialer Kohäsion in Europa zu entwickeln. Wir haben keine Chance, einen Finanzausgleich, eine gemeinsame Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik mit der Türkei zu entwickeln. Ich will die Einigung Europas. Mit Stoibers Vorstellungen über das christliche Abendland habe ich wirklich nichts zu schaffen.

Ozan Ceyhun: Als europäische Abgeordnete, als EU-Innenpolitiker, können wir es uns nicht leisten, nach dem 11. September ein Land auszuschließen, das unter den islamischen Ländern einmalig ist in seinen demokratischen Bestrebungen. Wir haben keine gemeinsame Nahostpolitik, keine Mittelmeerstrategie, kein Konzept für den Balkan oder den Kaukasusbereich. Gerade in diesen Gebieten ist die Türkei für uns sehr wertvoll. Ganz polemisch gesagt: Wir werden den Terrorismus nicht mit Hilfe der österreichischen Armee bekämpfen können. Aber die Türkei kann uns helfen, unsere Interessen im sicherheitspolitischen Bereich besser zu vertreten. Alle, die so heftig die Türkei kritisieren, haben nichts dagegen, wenn in Afghanistan die Schutztruppen derzeit unter einem türkischen General kommandiert werden. Die Türkei außen vor zu lassen, ist ein Luxus, den sich die EU nicht leisten kann.

Der Vorsitzende des Türkischen Bundes in Berlin hat gesagt: In der Nato dürfen die Türken für Europa sterben, aber in die EU dürfen sie nicht.

Johannes Voggenhuber: Das ist ja wohl eine ziemlich verstiegene Aussage. Wenn ich sehe, wer für die Ambitionen der USA und der Nato in Afghanistan den Kopf hinhält, und demnächst auch im Irak, dann ist es ja wohl umgekehrt: Die Europäer sind es, die für die Sicherheit dieser Region ihr Leben riskieren, das lässt sich doch nicht gegeneinander aufrechnen. Die Türkei und Europa haben einen Lebensraum zu teilen.

Herr Ceyhun, am 3. November wird in der Türkei gewählt. Ein großer Prozentsatz der WählerInnen in Ihrem Herkunftsland fühlt sich den Islamisten nahe. Ist das ein Hindernis auf dem Weg in die EU?

Ozan Ceyhun: Als in Österreich Haider einen Wahlsieg hatte, haben wir akzeptieren müssen, dass das Volk eine Entscheidung getroffen hat – aber es gab dafür von uns keinen Applaus. Für die Türkei gilt das Gleiche. Wenn die Islamisten in Ankara regieren dürfen, müssen wir das zur Kenntnis nehmen. Aber es würde für mich bedeuten, dass das türkische Volk sich gegen eine Integration in die Europäische Union entschieden hat. Als deutscher Abgeordneter, als Europäer würde ich mich nicht für eine Türkei einsetzen, die von Islamisten regiert wird. Dann hat ein Johannes Voggenhuber gewonnen.