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Straftat ohne gefühltes Opfer

Castor-Gegner wegen Nötigung und Störung öffentlicher Betriebe zu Geldstrafe verurteilt. Gericht wertet Anketten als Gewalt. Urteil soll „generalpräventive Wirkung“ haben. Ermittlungen gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt

von HEIKE DIERBACH

Gibt man den AtomkraftgegnerInnen „den kleinen Finger, nehmen sie gleich die ganze Hand“, meint Götz Wettig – und setzt deshalb auf harte Urteile: Der Richter am Lüneburger Amtsgericht verurteilte gestern einen Robin-Wood-Aktivisten, der sich beim Castor-Transport im März 2001 ans Gleis gekettet hatte, wegen Nötigung und Störung öffentlicher Betriebe zu 2000 Euro Geldstrafe. Erstmals wertete damit das Lüneburger Amtsgericht Anketten als Gewalt. Das Urteil, so Wettig, solle auch verdeutlichen, „dass die Frage um die Nutzung der Kernenergie nicht auf die Schiene zwischen Lüneburg und Dannenberg gehört“.

Dort hatte am 27. März 2001 nahe des Dorfes Bavendorf (Kreis Lüneburg) Tobias L. ein Stahlrohr unter der Schiene durchgeschoben, und seine Handgelenke darin angeschlossen – kurz bevor der Castor-Zug die Stelle erreichte. Eineinhalb Stunden brauchte der Bundesgrenzschutz, um den 29-jährigen Diplom-Ingenieur zu befreien und die Strecke frei zu machen.

Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert: Ein Castor-Transport sei kein öffentlicher Verkehr, und eine Nötigung scheide aus, weil es am Opfer fehle: Der betroffene Lokführer hatte vor Gericht ausgesagt, dass er sich keineswegs genötigt fühlte. Rechtsanwalt Wolfram Plener konnte sich auch auf das Urteil dessselben Amtsgerichts gegen die Betonblockierer von Süschendorf aus dem Mai dieses Jahres stützen: Trotz der viel massiveren Verankerung im Gleis hatte der Vorsitzende Richter Franz Kompisch damals eine Nötigung verneint, „weil es schlicht an der Gewalt mangelt“.

Sein Kollege Wettig folgte jetzt aber auf ganzer Linie – bei Urteil, Begründung und Strafmaß – dem Plädoyer des Staatsanwaltes Thomas Vogel. Ein Sonderzug gehöre zum Regelangebot der Bahn und damit zum öffentlichen Verkehr – auch, wenn statt Fußballfans radioaktive Abfälle transportiert würden. Und für eine Nötigung sei das subjektive Empfinden des Opfers nicht maßgeblich: „Sie haben durch ihr Anketten Einfluss auf den Willen des Lokführers genommen.“ Erschwerend wertete Wettig in diesem Zusammenhang den „erheblichen Kraftaufwand“, der nötig war, um Tobias L. aus dem Gleis zu befreien.

Deutlich machte der Richter aber auch, dass sich das Urteil nicht nur an Tobias L. richtet, sondern „generalpräventiv“ wirken soll. In der Vergangenheit habe man Verfahren wegen Ankett-Aktionen eingestellt, „und das hat in der Szene kein Entgegenkommen bewirkt“ – die Aktionen seien im Gegenteil komplexer geworden. Dabei sei doch in Deutschland die Demonstrationsfreiheit „in weitesten Grenzen“ gewährt – und die politische Mitwirkung durch Wahlen gesichert: „Ihr Verhalten ist deshalb undemokratisch.“

Die Verteidigung wird in Berufung gehen, möglicherweise bis zum Bundesverfassungsgericht, um ein Grundsatzurteil zu erwirken. Aber auch für die Polizei geht der Fall weiter: Weil Tobias L. vor Gericht aussagte, dass er bei der Aktion von einem Polizisten in die Rippen getreten wurde, ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft gegen einen Beamten wegen Körperverletzung im Amt. Sollte sich der Verdacht bestätigen, so Vogel, sei das „eine unglaubliche Sauerei“.

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