: Flucht zu den Privaten erschwert
Koalition einigt sich auf Anhebung der Versicherungspflichtgrenze. Verhandlungen werden bis Mittwoch verlängert. Gesundheit und Soziales werden wohl in ein gemeinsames Ministerium gesteckt, Ulla Schmidt wird es vermutlich führen
von ULRIKE WINKELMANN
Gutverdiener in den gesetzlichen Kassen festhalten, Standesvertretungen der Ärzte schwächen, aber nicht entmachten, Patientenkarte, -quittung und -beauftragten einführen: das klang bekannt. Was SPD-Fraktionschef Franz Müntefering und Grünenchefin Claudia Roth gestern nach der Koalitionsrunde zum Thema Gesundheit verrieten, entsprach dem, was Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) schon vor der Wahl umgewälzt hat.
So gesehen, mehrten sich die Anzeichen dafür, dass Schmidt in der künftigen Regierung Chefin eines Großministeriums für Soziales und Gesundheit wird. Bestätigt wurde dies gestern nicht. Im Gegenteil: Die Gespräche zu Themen, Ressorts und Personal verzögern sich. Statt Montag werde man „am Mittwoch den Koalitionsvertrag vorstellen“, sagte Müntefering.
Unbestätigt blieb auch, was zuvor durchgesickert war: Die Koalitionäre wollen die Kassenbeiträge gesetzlich auf dem derzeitigen Stand festnageln. Um die Kassen zu entlasten, soll die Pharmaindustrie verpflichtet werden, ihnen Rabatte zu gewähren. Auch Großhandelsspannen sollen vermindert werden. Damit würde sich Rot-Grün stärker als bisher mit der Pharmalobby anlegen – ein Job, an dem bislang noch sämtliche GesundheitsministerInnen gescheitert sind.
Prominentester Punkt einer anstehenden Gesundheitsreform bleibt demnach die Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze von derzeit 3.375 auf 4.500 Euro. Das bedeutet: Wer als abhängig Beschäftigter weniger als 4.500 Euro brutto verdient, muss künftig in der gesetzlichen Krankenkasse bleiben. Auf diese Weise sollen junge Gutverdiener der öffentlichen Krankenversicherung länger erhalten bleiben, bevor sie sich in die Privatversicherungen absetzen können. Müntefering sagte, dies werde nur für Berufseinsteiger gelten. Gegen diese Pläne haben die Privatversicherungen bereits eine Verfassungsklage angedroht.
Was die Ausweitung der Kasseneinnahmen angeht, so sind die Grünen mit ihrer Forderung nach Einbeziehung von Miet- und Zinseinkünften in die Berechnung der Beiträge gescheitert. Zwar ist die Überlegung, dass nicht nur der Faktor Arbeit, sondern auch der Faktor Kapital für die Sozialversicherungen herangezogen werden müsste, auch der SPD vertraut. Doch „die paritätische Finanzierung der Sozialversicherungen bleibt erhalten“, sagte der SPD-Fraktionschef gestern und nahm damit das Argument der Gewerkschaften auf, wonach die Arbeitgeber nicht aus der hälftigen Verantwortung für die Krankenversicherung entlassen werden dürfen. Claudia Roth behauptete ergänzend, dies sei Konsens mit den Grünen.
Auch die heiß umkämpfte Frage, inwieweit die Ärzte-Organisationen entmachtet werden können, hat sich nach dem Schema Ulla Schmidt beantwortet: Neben den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) sollen demnach auch die einzelnen Ärzte und Krankenhäuser Vertragspartner der Kassen werden können. Davon versprechen sich die Kassen einen Qualitätswettbewerb der Ärzte und Kliniken – hatten sich allerdings gewünscht, dass die KVen ganz verdrängt würden.
Von der grünen Idee, in Sachen Wettbewerb auch die Kassen mit unterschiedlichen Leistungsprofilen gegeneinander antreten zu lassen, war gestern Abend nichts mehr zu hören, obwohl die letzte Gesundheitspolitikerin der Grünen, Katrin Göring-Eckard, dies gestern früh noch öffentlich gefordert hatte.
Statt dessen soll es ein „Deutsches Zentrum für Qualität in der Medizin“ geben, um den Ruf der Krankenversorgung in Deutschland aufzupolieren. Um den Patienten „in den Mittelpunkt“ zu rücken, soll eine Patienten(-chip-)karte Doppelverschreibungen und Dreifacharztbesuche abbauen helfen. Auf einer Quittung soll er die Kosten seiner Versorgung erfahren.
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