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Die Simulation von Lust

Unter Bekenntniszwang: Charles Mees’ Textcollage „True Love“ sucht nach der Liebe in Zeiten des steten öffentlichen Sextalks. In der deutschen Erstaufführung am Deutschen Theater aber bleibt dabei jegliches Geheimnis der Figuren auf der Strecke

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Es war einmal eine Mutter, die liebte ihren Sohn, als der Vater nicht wiederkam. Sie hießen Phädra, Hippolit und Theseus, und ihre Geschichte ging nicht gut aus: Stoff für Tragödien von Euripides bis Sarah Kane. Und für die Psychoanalyse, die aus Inzestverbot und Tabubruch ihre Familientheorie entwickelte.

Und wieder ist da eine Mutter, die ihren Sohn liebt, als der Vater bei einer Autopanne verloren geht. Sie heißen Polly, Edward und Richard, und ihre Geschichte geht nicht gut aus irgendwo im Wilden Westen, gestrandet zwischen Transvestiten und Fetischisten. Charles Mees, Historiker und Dramatiker aus den USA, hat in seine Textcollage „True Love“ die antike Folie und die zeitgenössische Geschichte gepackt. Doch im Kern kreist sein Drama um die Frage, wie man von A nach B kommt: vom Mythos, der das Gesetz als Wahrheit etablieren wollte und Liebe als das Verborgene beschrieb, zu einer exhibitionistischen Zeit, die das sexuelle Begehren als endlose Oberfläche ausbreitet und keine andere Wahrheit dahinter kennt. Eigentlich müssten die tragischen Konflikte und Handlungsmuster auf dem Weg durch die Aufklärung und ihre Vermarktung ihre Wirksamkeit verlieren. Dass sie wirksam bleiben, die Skepsis in unsere Befreiung, liefert die Spannung des Stücks.

Am Deutschen Theater hat Martin Kloepffer die deutschsprachige Erstaufführung inszeniert. Es ist ein sehr komisches Stück geworden, das im Gelächter überall Schutz vor der Scham und der Furcht bietet. Nichts ist so pervers, dass es sich nicht als witzige Anekdote zubereiten ließe. Zuständig dafür sind Bonnie, Shirley, Jim, Phil und Red Dicks, die sich in einer Art Therapiegruppe von ihrem Verständnis von Liebe erzählen: Wir hören von der Länge von Hundeschwänzen und was Sachkundelehrerinnen mit Erdnussbutter machen und wie Nageln und Schlitzen den letzten Kick geben. Das wird wie eine schräge Nummernrevue ausgebreitet, in der die Schauspieler sich durch die Bank als aufmerksame Fernsehzuschauer erweisen. Doch die Karikatur auf den öffentlichen Bekenntnisdrang ist diesem selbst nicht unähnlich: Sie findet keinen Punkt. So ist der Zuschauer davon irgendwann genauso genervt wie Polly und Edward, die ja eigentlich nur eine Autopanne hatten und jetzt zwischen diesen Sexmaniacs festhängen.

Der Regie gelingt es nicht, zwischen den Erzählebenen dieser schrillen Collage die Balance zu halten. Mehrmals steuert „True Love“ auf den Punkt zu, zwischen Liebe und Sexualität unterscheiden zu wollen – aber es geht nicht. Figuren und Schauspieler verheddern sich, sie laufen wieder in die Falle der Aufdeckung und leiden doch dabei, so ganz ohne Geheimnis dazustehen. Auf der Strecke bleibt die Anteilnahme: Über all dieser lauten Simulation von Lust vergisst man, sich für Polly und Edward zu interessieren. Aber noch mehr wird verpasst. Mees hat in seinem Stück nicht nur die Frage aufgeworfen, was aus der Liebe in Zeiten des permanenten Sextalks wird. Sondern auch, welchen Ort das Theater in einer Öffentlichkeit einnehmen kann, die von der ständigen Grenzverletzung lebt, dem aggressiven Griff nach dem Intimen, einer obsessiven Besetzung der Sprache. Die Inszenierung aber traut sich nicht, in diesem Konflikt eine Entscheidung zu treffen. Mit lauem Missbehagen wird man entlassen.

Deutsches Theater, 16. und 21. Oktober

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