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Uneinigkeit und Recht und Freiheit

Postenschacher im Bundestag: Die rot-grüne Mehrheit verweigert der Union einen zweiten Vizepräsidenten und revanchiert sich damit für 1994. Im Gegenzug stimmen viele von CDU/CSU gegen Wolfgang Thierse, den sie sowieso nicht leiden können

aus Berlin ULRIKE HERRMANN

Es ist bitter, zu verlieren. Die Union ist jedenfalls nicht gut auf die SPD zu sprechen und nutzte die Eröffnung des Bundestages, um ihren Unmut kundzutun.

Das zeigte sich schon bei der Wahl von Wolfgang Thierse. Zwar ist der ostdeutsche Sozialdemokrat erneut Präsident des Bundestages geworden, aber diesmal erhielt er nur 59,9 Prozent der Stimmen. Vor vier Jahren hatte er noch 76,9 Prozent bekommen.

Damals musste die CDU noch nicht mit einer Parteispendenaffäre leben. Jetzt aber ärgert sie sich über die Strafgelder, die die Bundestagsverwaltung in Übereinstimmung mit dem Parteiengesetz verhängt hat. Exkanzler Helmut Kohl behauptete gar, Thierse sei „der Bundestagspräsident, der sein Amt am parteiischsten ausübt“.

Wenigstens einen zweiten Vizepräsidenten wollte sich die Union erstreiten. Es sei unfair, klagte ihr parlamentarischer Geschäftsführer Volker Kauder, dass die Union „wie eine 8-Prozent-Partei“ behandelt werde. SPD, Grüne und PDS kannten jedoch kein Mitleid, schließlich hatte die Union 1994 der SPD ebenfalls einen zweiten Vizeposten verweigert.

Es bleibt also bei vier Vizeposten. Die Religionslehrerin Susanne Kastner (SPD) löst Anke Fuchs ab. Norbert Lammert (CDU) wird Nachfolger von Rudolf Seiters. Bestätigt wurden Hermann Otto Solms (FDP) und Antje Vollmer (Grüne).

Vor einigen Wochen hatte es allerdings noch so ausgesehen, als würde Vollmer parteiintern entmachtet. Außenminister Joschka Fischer schien es opportun, ihren Posten einfach Werner Schulz anzubieten, damit dieser nicht für den Fraktionsvorsitz kandidiert. Schulz lehnte ab.

Zwischen SPD und Union ist jedoch nicht nur die Zahl der Vizepräsidenten umstritten, sondern auch der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat. Seit der Wahl herrscht rechnerisch ein Patt zwischen beiden Parteien. Die SPD will daher das Wahlverfahren für die 16 Abgesandten des Bundestages einseitig verändern. Die CDU hat schon gedroht, das Bundesverfassungsgericht anzurufen.

Aber wozu eskalieren, wenn es noch andere „Signale“ gibt. Um die SPD zu Verhandlungen zu zwingen, hat die Union das „Pairing“-Abkommen nicht verlängert. Es stellt sicher, dass auch dann die eigentlichen Mehrheitsverhältnisse gelten, wenn Abgeordnete auf Dienstreise oder erkrankt sind.

Das Pairing wird allerdings nur bei wichtigen Abstimmungen angewandt, wenn komplette Anwesenheit erwartet wird. Normal sind jedoch andere Bilder: Es steht eine Detailfrage an und nur wenige Abgeordnete tummeln sich im Plenum. Hier greift nicht das Pairing, sondern der Fernsehtrick. Mitarbeiter schalten in ihren Büros den Parlamentskanal an und zählen via Bildschirm die Abgeordneten. Gerät die Mehrheit in Gefahr, werden zusätzliche Abgeordnete herbeitelefoniert.

Sollten sie nicht rechtzeitig herbeieilen, wird die „Notbremse“ Schriftführer gezogen, wie der Hamburger SPD-Abgeordnete Johannes Kahrs erklärt, der dieses Ehrenamt bekleidet. Fehlten Sozialdemokraten, dann würde der SPD-Schriftführer eben erklären, dass er „keine Mehrheit erkennen“ könne.

Das Ergebnis ist der „Hammelsprung“. Jeder einzelne Abgeordnete wird gezählt, indem er durch eine Tür des Plenarsaals geht. Entscheidend daran: Der Hammelsprung darf erst nach 15 Minuten Auszeit beginnen. Zeit genug, um endgültig einige der saumseligen Abgeordneten herbeizuordern. Jedenfalls, so Kahrs zufrieden, „haben wir in den letzten vier Jahren keine einzige Abstimmung verloren“.

Gestern war man sich übrigens auch einmal einig: Otto Schily ist der neue und junge Alterspräsident des Bundestages. Nur Vorgänger Willy Brandt war 1983 noch acht Monate jünger. Auch da widersprach niemand.

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