piwik no script img

Das Leben ist eine Baustelle

Seit Monaten wird am Gymnasium Hamburger Straße gebaut. Ganz nebenbei findet auch Unterricht statt – die SchülerInnen finden schon nicht mehr komisch, unter welchen Bedingungen sie lernen

Natürlich wusste auch die alte Dame nichts von der Achse des Bösen

Am Montag dieser Woche begann die Schule nach den Herbstferien wieder. Im Grundkurs Politik stand eine Klausur an. Das Problem: Die Handwerker hatten die Wände gerade gestrichen, es stank unerträglich. Also: Fenster auflassen. Aber es war bitterkalt. Also: Mäntel und Schals anlassen. Und Handschuhe. Sarah Kamp, Schülerin aus dem 13. Jahrgang, fror dennoch. Also lieh der Lehrer ihr netterweise seine Jacke. Ihre fiktive Geschichte „Das Leben ist eine Baustelle“ hatte sie schon vorher geschrieben. K.W.

Das neue Jahrtausend ist geprägt von Rachefeldzügen: Nicht nur das Imperium oder die Natur, nein, jetzt bedroht etwas die westliche Welt, gegen das uns nicht einmal Otto-Schily-Kataloge oder ARD-Spendengaben helfen können. Die Schule an der Hamburger Straße schlägt zurück. Jahrelang gemieden, beschimpft und verspottet, lässt sie uns jetzt ihre ganze Härte spüren. Ihr Hass richtet sich in erster Linie gegen junge, neugierige Geschöpfe, die Wissen und Rat in ihr suchen und gegen Pädagogen, die sich so aufrichtig darum bemühen, diesen Wissensdurst zu stillen. Die Schule führt einen aggressiven Kampf mit allen ihr möglichen Mitteln. Sie bedient sich psychologischer Kriegsführung, um den Willen der oben Genannten zu brechen.

Ihr erster Schritt war, die elektrischen Leitungen zu kappen und so alle Verbindungen zur Außenwelt zu unterbrechen. Die armen Schüler saßen nun morgens im Dunkeln auf ihren Stühlen, während ihr Lehrkörper verzweifelt und am Rande des Wahnsinns den Lichtschalter betätigte; die Hoffnung auf elektrisches Licht starb zuletzt. Dazu drang ein Hämmern und Sägen, das an ein dämonisches Lachen erinnerte, durch die düsteren Flure und Zimmer. Die Institution instrumentalisierte ihre Schadenfreude und setzte sie als unmenschliche Waffe ein. Stufe B ihres perfiden Plans wurde eingeleitet: Sie erzeugte einen so starken Lärm, dass etwas passierte, das so noch nie dagewesen war und sofort Entsetzen auslöste: Die Schüler verstanden nicht mehr, was der Lehrer sagte! Verzweiflung, gar Hoffnungslosigkeit machten sich breit. Doch die Menschen innerhalb der Schulmauern zeigten ihr noch lange nicht das schmutzig-weiße Laken aus dem darstellenden Spiel-Fundus. Die Mutigsten versammelten sich mit dem Auftrag, entweder die Fenster zu schließen oder niemals mehr zurückzukehren. Nach erfolgreicher Mission kehrten sie als Helden zurück. Nun dachte man, die Gefahr gebannt zu haben.

Oh, wie wütete die Hamburger nach diesem Rückschlag doch mit dem Gedanken, dass die Belegschaft allenfalls die Schlacht, keineswegs den Krieg gewonnen hatte. Sie fing an zu rumoren und schickte schrecklichen Laute, die sich nach Presslufthämmern anhörten, durch ihre Rohre, Leitungen und Beton an jedes Ohr. Sie kramte in ihrem Gedächtnis und ließ mit Hilfe ihres durch zahlreiche Gespräche der Schüler untereinander angeeignetem Harry-Potter-Wissens die sowieso schon mit Anthrax, oder war es Asbest, vergifteten Zimmerdecken verschwinden. Nun hospitierte während der Unterrichtstunden ihr Kollaborateur, der Schall, und verschluckte den Unterrichtsstoff schneller als die Schüler Pisa buchstabieren konnten. Die Menschen außerhalb bekundeten ihre Solidarität und schickten Bauarbeiter, um dem Lärm und der Selbstzerstörung der Schule ein Ende zu bereiten. Aber niemand hatte damit gerechnet, dass sie im Besitz von Massenvernichtungswaffen war. Schon bald flogen Dachziegel, bildeten sich Treibsandflecken und wurde die Pausenhalle zerstört. Ziel dieser Anschläge war es, die Schüler zu erschlagen, zu ersticken und erfrieren zu lassen. All unsere Hoffnung ruhte in diesen Tagen auf den Bauarbeitern, die in einem Akt der Selbstaufopferung sogar ein Gerüst um die Schule errichteten und versuchten, sie mit zerrissenen rot-weißen Planen einzuschüchtern. Es könnte natürlich auch nur eine Hommage an das italienische Eiscafé auf der anderen Straßenseite gewesen sein. Doch die Top-Secret Agentenmethoden der Arbeiter sollte man besser nicht hinterfragen. Obwohl sie sehr koordiniert arbeiten und augenscheinlich alles wie geplant verläuft, ist es bisher nicht gelungen, die Hamburger aufzuhalten. Mittlerweile hat es sogar ein erstes Opfer gegeben. Die arme Frau ahnte nichts Böses, als sie an der sich harmlos stellenden Schule vorbeischlenderte. Natürlich wusste sie auch nichts von der Achse des Bösen, die die Schule mit den auf dem Gehweg geparkten Rädern gebildet hatte. Im Rahmen eines feigen Luftangriffes fiel der Drahtesel über die Zivilistin her und verletzte sie schwer. Zum Glück bleibt es bisher bei diesem einen Kollateralschaden, denn die Bürokratie reagierte wie gewohnt schnell und verbot den Gehweg als Aufenthaltsort für Räder.

Doch was, wenn die Anschläge auf Leib und Leben nur ein verzweifelter Hilferuf sind? Ein Akt der Selbstzerstörung hinweisend auf das Verlangen nach Liebe und Anerkennung? Oder was wäre, wenn die Schule an der Hamburger Straße einfach nur renoviert werden möchte und in dem Wissen, dass der Geist des Bildungssenators zwar willig, aber das Geld rar ist, sich selbst aufgerissen hat, um Kosten zu sparen? Wir müssen wohl erkennen, dass diese Schulbaustelle uns das Leben nicht schwerer macht, sondern vielmehr zu unser aller Wohl beiträgt. Also lehnen wir uns in den kalten, aufgrund abgestellter Heizung, dunklen, aufgrund abgestellter Elektrizität, Schulräumen zurück und genießen den Baulärm. Und wenn eines der fleißigen Bauarbeiter- Bienchen auf dem Gerüst vorbeischlendert: Hebt die Hand und winkt ihm zu, denn es ist sein Verdienst, dass die Schule wieder Spaß macht! Sarah Kamp

Hinweis: Sarah Kamp, Schülerin aus dem 13. Jahrgang am Gymnasium Hamburger Straße, arbeitet zum zweiten Mal mit in der ad-hoc-Redaktion „Schulzeit“. Jedes Jahr im Herbst treffen sich Schülerinnen in den Räumen der taz-Redaktion, um praktische journalistische Erfahrungen zu sammeln und eine Sonderausgabe zu produzieren, die in Kooperation von GesamtschülerInnen-Vertretung und taz jeweils Ende November erscheint.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen