: Ein Aufstand alter Männer
von THOMAS GROSS
Im Nachhinein will jeder dabei gewesen sein: Musiker, Schriftsteller, bildende Künstler, Kulturschaffende ebenso wie Kulturverwalter, von Journalisten ganz zu schweigen. Gemessen an der Vielzahl der direkt oder indirekt Beteiligten muss von einer Rekrutierungsbewegung gesprochen werden, die bereits weite Teile der Öffentlichkeit unterwandert hat und spätestens zur übernächsten Legislaturperiode den Bundeskanzler stellen wird. Bloß Peter Hein geht „das böse P-Wort“ noch immer schwer über die Lippen.
Er umschreibt die Sache lieber, spricht von einem „breitgetretenen Zeitfenster“, in dem jeder sieht, was er will. Auf keinen Fall den Eindruck erwecken, Opa würde sich an den Krieg erinnern! Hein war nämlich wirklich dabei, damals, als Punk von England aus den Kontinent ergriff, die deutschen Provinzstädte Düsseldorf, Hamburg und Berlin erschütterte. Wäre er nicht vor mehr als zwei Jahrzehnten „als arroganter Fatzke mit von nix ’ner Ahnung und ’nem Haufen Komplexe rumgelaufen“, die Bewegung hätte einen Charakterdarsteller weniger.
Figur der Zeitgeschichte
Allerdings säße er dann auch nicht hier und müsste sich Fragen gefallen lassen: Warum seine Band, die Fehlfarben, wieder zusammengekommen ist. Warum sie eine neue Platte gemacht hat, vor allem: warum gerade jetzt. Ironie der Geschichte: In der Blüte ihrer Revoluzzerjahre nahm kaum jemand gebührend Notiz von Freund Hein und seinesgleichen, sie waren die Schreckgespenster einer Parallelrepublik und konnten höchstens auf Nachruhm hoffen. Heute sind sie anerkannte Figuren der Zeithistorie, müssen aber unentwegt von früher erzählen. „Monarchie und Alltag“, der Klassiker von 1980, bleibt das alles überschattende Monument. Dabei hat es, seit Frontmann Hein kurz darauf das Handtuch warf, nie eine offizielle Auflösung gegeben. „Reaktivierung“ hält er für den richtigen Ausdruck: „Da hat was brachgelegen und wird wieder angeschaltet.“
Wie das gehen soll, als (auch physiognomisch) gereifte Respektspunks einfach da anzuknüpfen, wo damals die Jugend zu Ende ging – das freilich ist die Frage. Am leichtesten beantwortet sie sich per Ausschlussverfahren. „Die Haste-mal-ne-Mark-Fußgängerzonen-Rumlunger-Nummer“ soll es auf keinen Fall sein, erklärt Gitarrist Thomas Schwebel, heute Musikproduzent und freier Autor. Mit Nostalgie kommt man aber auch nicht weiter, sekundiert Bassist Michael Kemner, bis vor kurzem Ausstellungsmacher beim Kunstamt Berlin-Schöneberg. Zwangsprogressivität? Das Allerletzte, schaltet Hein sich ein, der seit langen Jahren „in undurchsichtiger Position“ (Pressetext) beim IT-Konzern Xerox sein Geld verdient. Was aber dann? „Haltung“, „Standpunkt“, „Treue zu sich selbst“ – solche eher konservativen Begriffe stehen plötzlich im Raum. Kneipier Norbert Haehnel, als „wahrer Heino“ zu Bekanntheit gelangtes Punk-Double des berüchtigten Schlagersängers, serviert dazu Bier und Suppe: Der Tag ist lang, man muss bei Laune bleiben. Am Nebentisch wartet, das Mikro im Anschlag, bereits der nächste Kandidat von der Presse.
Mit der Durchsetzung der Punkgeneration in den Medien allein ist das rege Interesse an einem Haufen Mittvierziger nicht zu erklären. Die Wiederkehr der Veteranen rührt an den harten Kern. Es war nun mal das letzte Mal, dass da was war, ein Scharmützel, ein Tumult, ein offenkundiger und lautstarker Bruch mit den Gepflogenheiten in Pop und Welt, „vielleicht auch nur ein Kampf gegen Windmühlen“ (Hein). Was davor kam – Rock ’n’ Roll –, ist bereits historisch, was danach kam – Techno, Freude, Eierkuchen –, eine andere Geschichte. Sie handelt vom Dabeisein unterm Regime knüppelnder Beats. Punk dagegen zelebrierte auf finale Weise den Outsider, die gerupfte Gestalt im Regen, am lautesten die Fehlfarben.
„Was ich haben will, das krieg ich nicht, und was ich kriegen kann, gefällt mir nicht“ – so wenig Zuversicht ist nie von einem deutschen Popsong ausgegangen. Wo die Verständigungskultur der Hippies noch treuherzig nach Alternativen suchte – unter dem Pflaster oder jenseits der Gesellschaft –, traten die neuen Helden das Utopische insgesamt in die Tonne. „Es muss Anfang 1979 gewesen sein“, schreibt Jürgen Teipel in seiner zum Kultbuch avancierten Recherche der Ursprünge, „da hörte ich in meiner verschlafenen Kleinstadt, dass Punks einfach in Müllsäcken steckten.“ Der abwaschbare Mensch, heroisch in seiner Bejahung des Entfremdeten, kein Aber, kein Gebettel.
Verschwendete Jugend
Teipels „Doku-Roman“, im vergangenen Jahr unter dem Titel „Verschwende deine Jugend“ erschienen (und unlängst zur erfolgreichen Ausstellung umdekoriert), kommt dem gewachsenen Interesse der Nachgeborenen an der Punkhistorie entgegen, indem er die Protagonisten von damals selbst zu Wort kommen lässt: neben den Fehlfarben die übrigen Kämpfer der Rheinland-Fraktion, die elitären Hamburger, die düster pathetischen Berliner. Eine überfällige Aufklärung: „Wenn ich Leute treffe“, erzählt Schwebel, „die ich erst seit kurzem kenne, dann denken die: Punk, du? Das kann gar nicht sein, weil: ich hab ja nicht die Lederjacke an der Garderobe, den Irokesenschnitt und was man sonst damit verbindet.“
Mittlerweile lässt sich im O-Ton nachlesen, wie alles anfing, wie die Pioniere sich selbst und die Welt sahen und ab wann das Kind unter dem Namen „Neue Deutsche Welle“ den Bach runterging. Man sagt es aber auch gern noch mal: Dass die korrekte Haltung wenig mit Sicherheitsnadeln und viel mit grauen Mietshäusern am Stadtrand zu tun hatte (ein besonders tristes zierte das Cover von „Monarchie und Alltag“). Dass Punk kein Stil ist, sondern Lebenseinstellung. Dass die Hitparaden-Mucke von Ideal und Extrabreit niemals Punk war und in 100 Jahren nicht Punk sein wird.
Was allerdings seine wahre, innerste Essenz ausmacht, wer das P-Wort berufen in den Mund nehmen darf und wer nicht, ist bislang strittig. Düsseldorf war mehr Dosenbier, Hamburg die Brutstätte kommender Popstrategen und Berlin, wie immer, ein Sonderfall. An populärer Musik geschulte Intellektuelle beweisen Punkkompetenz, indem sie den Weltekel der Bewegung mit den Avantgardetheorien des 20. Jahrhunderts verbinden. Und tatsächlich lassen sich Spuren nachweisen, von Walter Benjamins Idee eines „destruktiven Charakters“ bis hin zu Adornos negativer Dialektik, aber darüber hinaus?
„Für mich war es nur das, was ich gemacht habe“, meint Hein, „und es hieß nur ein Jahr so. Danach kamen andere, haben sich das angeeignet, sind vielleicht damit glücklich geworden.“ Und: „Auch im Anzug kann ein Punk punkig aussehen und ein Depp deppert.“ Bislang bleibt jede Erzählung klein, vorläufig, ohne Gewähr. Dass definitive Varianten nicht angeboten werden, weder von Teipel noch von Schwebel noch dem ganzen Rest, entspricht sowohl dem Stand der Historisierung als auch der Ruhelosigkeit des Gegenstands. Solange Punk ein Stück mit verteilten Rollen ist, geht auch seine Leiche um.
Es ist ein seltsamer Kadaver. In manchem erinnert er an das Gespenst der 68er, als deren Antagonist und zugleich letzter Vollstrecker er auftritt. Punk hat seinen Marsch durch die Institutionen, seine Revisionisten, seine Verratslegenden. In seiner nihilistischen Moral ist er von einer Rigorosität, die den insgesamt braven Moralismus der Vorgängergeneration in den Schatten stellt. „Alles ist Scheiße, und die Welt ist schlecht. Du bist ein Arschloch. Andere Texte konnte ich nicht“ (Hein). Vielleicht handelt die Punkgeschichte auch deshalb so viel von Auflösungen, Abgängen und Rückzügen: weil es eine Geschichte der Selbstauslöschung ist. Nichts sollte bleiben von den hastig zusammengeschusterten Tapes, den Collagen im Erpresserbriefstil. Bloß einmal noch mit den Knochen gerasselt und dann ab auf den Müll des Jahrhunderts.
Nun gibt es sie aber, die neue Platte, unwiderruflich, mit Laser in Plastik gebrannt für die Ewigkeit. Sie heißt „Knietief im Dispo“ und klingt nach … Fehlfarben. Heute wie damals wurde nichts beschönigt, kein Effektgerät temperiert die individualistisch gehandhabten Gitarren, kein Overdub Heins klabauternden Gesang. Allenfalls wurde die Produktion – unter Hinzufügung von etwas Elektronik – sehr behutsam Minimalzeitstandards angeglichen. „Wir haben uns nicht viel vergeben in den Jahren“, spricht Hein. „Damals haben wir nicht richtig spielen können, heute können wir’s immer noch nicht. Damals haben wir das Maul aufgerissen, heute wieder. Wahrscheinlich wäre die Platte 1987 genauso geworden.“ Das aber ist eben das Problem. Die Band steht noch auf demselben Fleck, auf dem sie immer stand, aber die Welt drumherum hat sich gedreht. Was vor 20 Jahren Waffe im Kampf gegen den Schmockrock der Hippies war, klingt heute selbst bodenständig. Und wo damals Endzeitpathos waltete, herrscht jetzt Schielen nach Einverständnis. Noch einmal werden die alten Feindbilder übergroß an die Wand gemalt: die Durchschnittsbürger, die Geschäftstüchtigen, die „Rechteverwerter“, die an die Stelle der Zeitgeist-Spießer von einst getreten sind. „Raconteure und Flaneure trotzen dem Pack“, lautet die Botschaft – Hoho! Épatez le bourgeois! –, aber es hilft nichts. Aus den scharf gerittenen Attacken von einst sind Rückzugsgefechte geworden, und aus Jugendverschwendern Wertkonservative.
Opa erzählt vom Krieg
„Kein Flugzeug kann immer fliegen, niemand wird auf ewig siegen“ – die hohe Moral des Aufbruchs ist zur milden Resignation verdampft, aber sie lebt. Konservieren ließ sie sich überhaupt nur, indem man damals so früh von der Bühne verschwand, das Feld anderen überließ – Grundlage des Fehlfarben-Mythos. Doch der historische Moment ist unwiederholbar, es sei denn um den Preis des Selbstzitats. Wenn Hein heute gegen die „Schnöselmaschine“ anwettert, hat das mehr von einem Kampf gegen Windmühlen als je zuvor, und wenn er sich aus der Perspektive eines Veteranen heraus an bessere Tage erinnert, erzählt eben doch Opa vom letzten Krieg.
Es liegt aber auch eine Kraft darin. Es ist eine Kraft der Sturheit, die Weiterentwicklung aus Prinzip ablehnt, weil sie darin – nicht ganz zu Unrecht – nur den Ladenhüter von morgen erkennt. Sollen doch die anderen modern sein, die Karriere-Punks und New-Wave-Gewinnler! Als große, notorisch vernörgelte Beharrer, als sensible Menschenhasser und Freunde des Altbiers sind die Fehlfarben auch 2002 eine Band auf der Suche. „Sich abgrenzen ist das Allerwichtigste“ möchte Peter Hein noch loswerden, bevor die Gesprächszeit zu Ende geht. Wer sagt denn, dass nicht noch mal was kommen wird, etwas, das bislang weder Gestalt noch Namen hat? Punk will heute jeder gewesen sein. Zum Wesen der Zukunft gehört, dass keiner sie kennt.
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