: Facettierte Realitäten
Von schwärenden Generationenkonflikten und anderen Erziehungsproblemen: Der 8. „Hamburger Ziegel“ dekliniert, teils mit Ironie angefüttert, Allbekanntes durch und huldigt, fein dosiert, der Lyrik
von MATTHIAS SEEBERG
Mit der Lektüre von Anthologien ist es wie mit einer gediegenen Weinverkostung: Wenn man mit Dosierung und Abfolge verantwortungsvoll umgeht, gibt es nach einem angenehmen Rausch ein katerloses Erwachen. Wem dieser Vergleich zu trivial erscheint, der sei daran erinnert, dass sich eine Anthologie ja bekanntlich als literarische „Blütenlese“ versteht, deren Resultat eine Sammlung verschiedener Textsorten bildet.
Unter der stetig wachsenden Zahl literarischer Kompilationen hat sich der Hamburger Ziegel zur mittlerweile bedeutendsten lokalen Literaturanthologie Deutschlands entwickelt. Auch das jetzt edierte 8. Jahrbuch für Literatur begreift sich als Seismograph aktueller literarischer Strömungen. Im vorliegenden, über 500 Seiten starken Band haben Herausgeber und Verlag eine Auswahl aus ebenso vielen Manuskripten versammelt, die interessante Kontraste in puncto Genre, Inhalt und Erzähltechnik bietet.
Als Kompendium vorrangig jüngerer Autoren funktioniert auch der achte Hamburger Ziegel als Entdeckungsbuch, das Varianten literarischer Wirklichkeitserfahrung wie Kurzgeschichten, Romanauszüge, Gedichte und Literaturübersetzungen enthält. Der thematisch in verschiedene Rubriken gegliederte Band enthält außerdem Illustrationen von Fotografen und bildenden Künstlern.
Die umfangreichste und in sich nochmals dreigeteilte Rubrik mit dem Titel Familienbilder versammelt eine Vielzahl von Erzählungen, die sich oft durch einen ironischen Zugang zum Thema Familie und dem weiten Feld der Generationenkonflikte auszeichnen. Neben einem Auszug aus dem jüngst erschienenen Roman Das ist kein Liebeslied von Karen Duve ist beispielsweise die Erzählung Laterne gehen von Appoche (Pseudonym von Alexander Posch) enthalten, in der sich für einen allein erziehenden Vater der simple Besuch eines Lampignonumzugs mit seiner Tochter und einem Nachbarskind zum stressigen Abenteuer entwickelt.
Im Abschnitt Liebesperlen geht es um zwischenmenschliche Beziehungen. Die versammelten Beiträge beschreiben facettenreich diesen zur Kampfzone erklärten Lebensbereich, was zwar auf die fortbestehende Aktualität des Sujets verweist, aber aufgrund der immer gleichen Aspekte – Desillusionierung, sexuelle Orientierungsschwierigkeiten, Gewalt – auf Dauer ermüdend wirkt.
Beachtlich ist der Raum, der dem im Literaturbetrieb oft marginalisierten Genre Lyrik eingeräumt wird. Das Spektrum erstreckt sich von Gedichten Andreas Münzners, die auf den Abschnitt Eingriffe, die nötig sind einstimmen bis zu dem mit botanischen Aquarellen illustrierten poetischen Herbarium Statt Blumen von Frederike Frei. Auszugsweise ist auch ein Projekt des Fotodesigners Peter Köhn dokumentiert, der 26 Einzelporträts Hamburger Lyriker mit deren Texten kombinierte, die bis im Juli dieses Jahres auf der Cap San Diego ausgestellt waren.
Erzählungen aus dem Umfeldder Clubkultur finden sich schließlich im Kapitel Kiezknistern. Die Konzentration auf diesen ohne Zweifel für jüngere Literatur typischen Topos erklärt sich aus der großen Anzahl von Autoren, die aus dem Bereich Slam Poetry, Spoken Word u.ä. kommen. Unter dem Label Macht e.V. haben sie sich im Oktober 2000 zu einem Netzwerk der Off-Szene formiert und den Mojo-Club zum Ambiente ihrer allmonatlichen nächtlichen Lese-Events erkoren.
Am 21. November wird es im Literaturhaus übrigens einen Lesewettbewerb mit zehn Ziegel-Autoren geben, bei dem das Publikum über die Vergabe der Preise entscheidet. Und für die diesbezügliche Vorbereitung ist die Anthologie natürlich hervorragend geeignet.
Jürgen Abel, Robert Galitz, Wolfgang Schömel (Hg.): Hamburger Ziegel. 8. Jahrbuch für Literatur; Hamburg 2002, 535 S.; 14,80 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen