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Aufstieg und Abstieg

taz-Serie „Berliner Bergwelt“: Die Lebenswege seiner Dichter und Literaten lassen keinen anderen Befund zu – der Prenzlauer Berg hat seine Gipfeljahre hinter sich. Die Zukunft liegt in den Tälern

von UWE RADA

Müßig zu fragen, wer mit dem Mythos begonnen hat. Waren es die Schriftsteller, die sich bei Wilfriede Maaß in der Schönfließer Straße am Küchentisch trafen und später „Prenzlauer Berg“ genannt wurden? Oder waren es Fotografen wie Bernd Heyden, der bis zu seinem Tod 1984 die eher proletarischen Bilder des Bezirks festhielt?

Der Mythos vom Berg

Egal. Als 1987, pünktlich zur 750-Jahr-Feier von Berlin, Hauptstadt der DDR, Daniela Dahns „Prenzlauer Berg Tour“ erschien, musste der Mythos nicht mehr erfunden, sondern als Prenzlauer-Berg-Predigt nur fortgeschrieben werden: „Auf den Hügeln, rund um die Zentren großer Städte, stößt man merkwürdiger Weise oft auf so eine Art städtisches Bergvolk“, schrieb Dahn gleich zu Beginn, um dann einen folgenschweren Vergleich zu ziehen. „Jedenfalls ist in Berlin diese besondere Population auffallend in der Gegend des Prenzlauer Bergs und des Kreuzbergs, in Paris auf dem Montmartre und Montparnasse.“

Montmartre, da war es raus. Bereits 15 Jahre vor der wunderbaren Welt der Amélie haben die wunderbaren Welten zwischen Oderberger Straße und Arnswalder Platz, zwischen Erich-Weinert-Straße und Teutoburger Platz ihren Anspruch formuliert, in die Reihe der „städtischen Gebirge“ (Daniela Dahn) aufgenommen zu werden, deren Klima oftmals rau war, in denen aber auch „absonderliche Pflanzen“ gediehen.

Als vor einem Jahr die Prenzlauer Berg Tour neu aufgelegt wurde, waren die „absonderlichen Pflanzen“ eingegangen. Neue Pioniergewächse waren an ihre Stelle getreten, mit glatten Blättern, nachwachsender Rohstoff, natürlich. Die Dichter von früher sind inzwischen eh, wie Bert Papenfuß, vom Bergplateu („Torpedokäfer“) in die Niederungen des Spreetals („Kaffee Burger“) gezogen.

Je größer der Abstieg, umso angestrengter wird die Suche nach dem Gipfel. Und umso vergeblicher. Noch immer klingt das Wort jener Touristengruppe in den Ohren, die vor einigen Jahren schon am Kollwitzplatz raunte: „Nun sind wir hier im Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Wo aber ist das Künstlerviertel?“ Nach Montmartre haben sie schon nicht mehr gefragt.

Der Prenzlauer Berg ist der südlichste Ausläufer des Barnimer Höhenzugs, einer Endmoränenkette, die bis kurz vors Spreetal reicht und es südlich davon als Teltow wieder zu beträchtlicher Höhe bringt. Geologisch gesehen ist der Prenzlauer Berg also nicht das östliche, sondern das nördliche Pendant zum Kreuzberg.

Doch das ist schon die einzige Gemeinsamkeit. Während der Kreuzberg die gesamte Kulisse der ehemaligen Tempelhofer Vorstadt überragt, erfährt man den Prenzlauer Berg meist nur mit dem Fahrrad. Dann etwa, wenn es die Veteranenstraße in Richtung Zionskirche geht, oder die Prenzlauer Allee hoch, wo man am liebsten schon bei der DEA-Tankstelle bei einem Sixpack Bergfest feiern möchte.

Anders als den Kreuzberg muss man den Prenzlauer Berg entdecken. Zum Beispiel nördlich der Mollstraße zwischen Greifswalder und Prenzlauer Allee, wo man nicht nur topografisch am Fuß des Berges steht, sondern auch zu einem schwindelerregenden Höhenweg aufblickt, der nur dann etwas von seinem Schrecken verliert, wenn man sich vergewissert, dass man sich bereits auf 34 Meter über Normalnull hochgearbeitet und somit nur noch 14 Höhenmeter vor sich hat.

Der Friedhofsberg

Entdecken kann man den Prenzlauer Berg auch, wenn man von der Greifswalder Straße über die Friedhöfe St. Georgen, St. Marien und St. Nikolai in Richtung Prenzlauer Allee steigt. Gleich am Fuße des Anstiegs liegt das Grab von Lothar Feix, von dem man nicht so genau weiß, ob nun er dem Prenzlauer Berg zum Opfer fiel oder umgekehrt. Die schönste Geschichte des selbst ernannten „langzeitarbeitslosen Gelegenheitsautors“ geht so: „Die einzige Demonstration in der Wendezeit, die ich gestaltet habe, war keine Protestdemonstration, sondern ein Freund von mir und ich, wir haben die Zusammenführung von Bummibär und Winni Pu begrüßt. Vorne fuhr ein Bullenwagen und hinten fuhr ein Bullenwagen, in der Mitte gingen wir und sangen das Bummilied.“

Im Ende der absonderlichen Pflanze Lothar Feix lebt die ganze Geschichte des Bergs. Zum Beispiel die seines Anfangs als Windmühlenberg, gegen den zwar kein Don Quichotte Sturm lief, wohl aber die Spekulantenszene der ersten Berliner Gründerzeit. Sie ließ das Gelände mit den fünf Windmühlen zwischen der heutigen Schönhauser Allee, Belforter, Prenzlauer Allee und Saarbrücker Straße einebnen und bebauen. Vorbei war es fortan mit dem erhabenen Stolz der Windmühlen auf dem Barnimer Höhenzug, auf dem man bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 24 Mühlen zählte.

Vorbei war es aber auch schon gewesen, wenn eine der Mühlen wieder einmal dem Feuer zum Opfer gefallen war. Das war meist dann der Fall, wenn ein betrunkener Gesell es verpasste, Getreide nachzuschütten und die Mühlsteine Funken schlugen. „Die sich im Winde drehenden, brennenden Mühlen sind ein großartiges Feuerwerk“, schrieb ein Zeitgenosse. „Immer, wenn ein Sack Getreide neu in Brand gerät, sprühen die brennenden Körner, ein glühendes Rad bildend, hoch in den dunklen Himmel empor.“ Lothar Feix hätte seine Freude gehabt an solchen Texten. Heute hat man dort, wo die Windmühlen nicht den Mietskasernen gewichen sind, Friedhöfe angelegt. Der Berg ruft nicht, er ruht.

Der Abstieg ins Tal

„Man glaubt, dass es kleines Leben ist, das im Prenzlauer Berg wird und vergeht und nicht untergeht“, schrieben Jutta Voigt und Fritz-Jochen Kopka im Mai 1989 im Vorwort ihres Reportagenbandes über den Kollwitzplatz. „Doch von jedem Haus ziehen sich Lebenslinien nach Sibirien und Amerika, zurück zur Gründung der ersten großen Fabriken, nach vorn in die Utopie.“

Heute berichtet Jutta Voigt über die Zurückgebliebenen, die das Ende der Utopie zum Beispiel in Nowa Huta in eine neue Zeit ohne Zukunft entlassen hat. Zuvor waren Voigt und Kopka selbst zurückgeblieben, nach zehn Jahren Wochenpost und Woche entlassen auf den freien Arbeitsmarkt, der in Prenzlauer Berg nunmehr so sehr blüht wie in diesen anderen Bergregionen auch, ob sie nun Montmartre heißen oder Kreuzberg.

Während die Touristen am Kollwitzplatz noch immer nach dem „Künstlerviertel“ suchen und die neuen Bergsteiger am Fuße des Barnim nördlich der Mollstraße überlegen, welches Equipment sie für die 14 Höhenmeter benötigen, sieht die Welt aus der Sicht eines Absteigers anders aus. Vor ihm türmen sich keine Mythen auf, sondern die Elfgeschosser des Neubaugebiets Mendelssohnstraße.

So oder so ähnlich wird es auch Annett Gröschner gesehen haben. Schwankte die Autorin von „Moskauer Eis“ in ihrem vor drei Jahren erschienenen Biografienband „Durchgangszimmer Prenzlauer Berg“ noch zwischen Erinnerungs- und Trauerarbeit, hat sie sich in ihrem jüngsten Buch nicht mehr mit alternden Literaten ins Café gesetzt, sondern in Busse und Bahnen. Auf ihren Talfahrten nach Rüdersdorf und anderen Endhaltestellen begegnen ihr plötzlich wieder jene „absonderlichen Pflanzen“, jene Lebenslinien und Utopien, die es auf den rauen Berghängen schon lange nicht mehr gibt. Der Titel ihres Buches: „Die Zukunft beginnt hier.“

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