Echt ist uns nicht echt genug

Mit den Fingernägeln fing es an. Plötzlich waren sie schmutzig, Realitätsmarker in der Traumwelt Hollywoods. Es ging weiter: mit Dogma, Laiendarstellern und „The Blair Witch Project“. Wohin es führt, wenn das Kino die Wirklichkeit zum Fetisch macht

Die Dogmabewegung feiert, dass alle Beteiligten einander ausgeliefert sind

von GEORG SEESSLEN

Die Wirklichkeit wird dauernd neu erfunden, im Kino sowieso. Aber natürlich wird sie nicht so erfunden wie ein neues Autodesign oder ein Science-Fiction-Roman. Sie wird erfunden als das, was genau in diesem Augenblick als am wenigsten erfunden erscheint.

Mit den Fingernägeln fing es an. Lange bevor das Wirkliche im Kino zum Programm und zum Skandal werden wollte. Erinnern Sie sich? Ende der Achtzigerjahre war es im Hollywoodfilm, der nicht nach zu viel Wirklichkeit riecht, gang und gäbe, dass man bei einer Nahaufnahme auf eine Hand sah: Der oder die Aufgenommene hätte sich schnell mal die Nägel sauber machen sollen. Diese dezente Verschmutzung war das Einfallstor der trivialen Wirklichkeit in die 35 mm-Traumwelt.

Aber natürlich reichen schmutzige Fingernägel nicht, um unseren Hunger nach dem Wirklichen in der Traumwelt zu befriedigen. Denn das Wirkliche hat außerhalb des Kinos alles „Triviale“ und Selbstverständliche verloren. Offensichtlich gelingt es uns nicht mehr, eine gemeinsame und verbindliche Wirklichkeit zu erfinden. Ganz abgesehen von den großen Entwirklichungsschüben, die etwa durch den Golfkrieg, durch den Anschlag auf die Twin Towers oder durch Menschen wie Dieter Bohlen und Verona Feldbusch ausgelöst wurden. Schwerer noch wiegt, dass niemand mehr sicher sein kann, ob der Nachbar in derselben Wirklichkeit lebt wie man selbst. Auch das ist auf den zweiten Blick höchst merkwürdig: Gerade weil die Dinge des Lebens und der Beziehungen überaus genormt sind, verlieren sie ihren verlässlichen Gehalt an Wirklichkeit.

Die wird durch ihre Serialisierung und technische Reproduktion statt immer realer immer surrealer. Dafür hat ja auch das Kino seine Bilder, nicht nur in der „Truman Show“. Wenn morgens ein Mann mit einer Aktentasche aus seinem Vorstadthaus tritt und zu seinem Wagen geht, seiner Frau einen Gruß zuruft, um dann ins Büro zu fahren, ist das eine sehr reale Situation. Wenn zwei Männer es gleichzeitig tun, ist es ein netter Zufall. Wenn aber hundert Männer mit hundert Aktentaschen aus hundert Vorstadthäusern und so weiter, dann ergibt das ein surrealistisches Bild, vielleicht auch ein fantastisches.

Noch diese triviale Wirklichkeit ist in Gefahr, und zwar durch eine noch viel wirklichere Wirklichkeit, durch ihren Verlust. Schon rein statistisch wird einer von unseren hundert Vorstadthausmännern Montagmorgen Opfer eines Verkehrsunfalls oder einer „Familientragödie“. Deshalb liebt es das Kino so sehr, seine Menschen aus einer angestammten Wirklichkeit in eine wirklichere Wirklichkeit auf den Straßen zu schicken. Der Verkehrsunfall ist die letzte Chance für unseren Vorstadtmann oder seine Vorstadtfrau. Man muss hinunter, um noch einmal wirklich zu werden. Wie zum Beispiel der Millionär Mel Brooks in einem Film mit dem realistischen Titel „Life stinks“. Und jetzt haben wir’s: Wir bewegen uns auf einer Linie von der Wirklichkeit des Körpers zur Wirklichkeit der Dinge. Hin und manchmal auch zurück. Je körperlicher es wird, desto mehr stinkt das wirkliche Leben. Aber je mehr Herrschaft die Dinge und Bilder darin übernehmen, desto mehr verliert es seine Wirklichkeit.

Die erste Regel, im Kino und im Leben, ist die, dass man zur Rückkehr von der Wirklichkeit der Dinge zur Wirklichkeit der Körper gezwungen werden muss. Daher wurde das Kino erbarmungslos körperlich. Die Kamera fuhr mit der Kugel in den Körper, weidete sich an den Wunden und riss selbst unserem begehrtesten Star noch etwas von seiner makellosen Haut auf. Und natürlich der Sex! Auch hier reichte es nicht mehr, dem Spiel der Symbole freien Lauf zu lassen. Auch hier musste sich der Körper öffnen. Der Schauspieler und die Schauspielerin haben gefälligst jenen Punkt zu erreichen, an dem es keine vollständige Kontrolle über den Körper mehr gibt. Er muss wirklich fett werden wie Robert de Niro; sie müssen es wirklich miteinander treiben wie …, ach was, das gehört längst zur guten PR für jeden prüden Sexfilm aus den USA.

Wie nun kann das Kino seine mehr oder minder geschlossenen Systeme dem Wirklichen (das heißt: dem Körper hinter den entzauberten Dingen, dem Verhalten hinter dem Code oder dem, was verständlich ist, ohne erklärbar zu sein) öffnen? In erster Linie ist das eine technische Angelegenheit. Zunächst einmal kann man an die Stelle der Inszenierung etwas anderes setzen, was man vielleicht als das gemeinsame Erarbeiten eines Bewegungsbildes für einen Schauspieler nennen könnte oder eine Gruppenarbeit der Verwandlung von Biografie in Schauspiel. John Cassavetes hat so etwas mit seinen Leuten gemacht, auch bei Jacques Rivette passiert das, wenn auch auf sehr spielerische Weise, bei Rainer Werner Fassbinder läuft die körperliche und biografische und emotionale Wirklichkeit der Schauspieler immer neben den Rollen weiter. All diese Vorahnungen des Einbruchs von Wirklichkeit in ihre cineastische Darstellung waren und sind noch vollständig als „Kunst“ geadelt.

Im nächsten Schritt tritt an die Stelle der wahren Situationen von Körper und Biografie die Wirklichkeit der körperlichen Funktion und Dysfunktion. Das hat mit dem Wandel der mise en scène so viel zu tun wie mit dem der Einstellung (der Kamera und überhaupt). Die Naheinstellung als das klassische Affektbild des Kinos, als der Augenblick größter Intimität, bezieht sich zum letzten und höchst parodistischen Mal im italienischen Western auf das menschliche Gesicht. Aber schon da zersetzt es sich weiter, sieht nur noch Mund oder Augen. Es beginnt eine Monumentalisierung des körperlichen Details.

Bruno Dumont etwa zeigt in seinen filmischen Bußpredigten das Affektbild der Geschlechtsteile (im Zustand größten Elends, der Entfremdung durch Gewalt und Tod), so als müsste uns in diesem Augenblick der größten Wirklichkeit alle Lust auf sie ausgetrieben werden; während es in den Inszenierungen des Pornofilmes eine fetischistische Aufhebung der körperlichen Wirklichkeit gibt, bei der uns das Biografische (also die Zeitdimension des Wirklichen) nicht wirklich interessiert, scheint uns in den sexuellen Bildern der neuen europäischen Filmwirklichkeit gerade umgekehrt auf eine heilige Weise der schlechteste Teil der Erfahrung anzuwehen: Wenn uns die Wirklichkeit so körperlich angreift, dann hebt sie sich auch schon wieder im Tod auf.

Der nächste Schritt zur Öffnung des Filmbildes für die schockierende Wirklichkeit ist die Begrenzung der technischen Mittel zu ihrer Veränderung. Der relative Erfolg der dänischen Dogmabewegung ist nicht so sehr zu erklären als radikale Rückkehr zu einem armen und deswegen zu Demokratie und Kampf begabten Kino. Vielmehr ist Dogma die Erklärung einer neuen filmischen Wirklichkeit. Alles läuft auf ein Dabeisein hinaus. Und auf ein möglichst vollständiges Ausgeliefertsein. Der Schauspieler ist vollständig der von ihm und dem Regisseur einmal geschaffenen Situation ausgeliefert, die Kamera ist ihrer Unfähigkeit zum Wegsehen ausgeliefert, die Figuren und ihre Situation sind dem Blick der Zuschauer ausgeliefert, und der Zuschauer ist dem Spiel der Entäußerungen auf der Leinwand ausgeliefert. Am Ende ist das entweder ein törichtes Spiel mit dem Authentischen und seinem Dogma, oder aber das Einander-Ausgeliefertsein selbst ist in der Tat der beste Ausdruck von „Wirklichkeit“.

Was ist noch wirklich, wenn es Menschen wie Dieter Bohlen gibt?

Kein Wunder also, dass der nächste Schritt in der scheinbar so paradoxen Verknüpfung von Wirklichkeit und Horror bestehen musste. In „The Blair Witch Project“ sehen wir mit den technisch eingeschränkten Mitteln eines Dogmafilmes Schauspielern dabei zu, wie etwas ihnen wirklich Angst macht, wie sie wirklich nicht weiterwissen. Doch so wie sich der Wirklichkeitsflash der Dogmafilme einerseits verbraucht, andererseits mehr oder weniger undogmatisch in immer neue Ansätze des Reality Movie übergeht, verpufft dieser Wirklichkeitsschock mit einem Mal. Vielleicht auch weil sein zweites Paradox nicht zu wiederholen ist: Das Wirklichkeitsversprechen dieses Films wurde fast ausschließlich über das Entwirklichungsmedium Internet verbreitet. „The Blair Witch Project“ wäre als Gerücht noch viel wirklicher geworden denn als manifester Film.

Der nächste Schritt kann nur in der radikalen Vermischung des Dokumentarischen und des Fiktiven bestehen. Am meisten diskutiert wurde diese Strategie des Wirklichen im Kino an den Filmen von Ulrich Seidl aus Österreich. Er ließ Menschen sich selbst spielen, inszenierte wirkliche Augenblicke wie hoch ästhetisierte Spielfilme oder ließ umgekehrt, wie in „Hundstage“, eine Schauspielerin als Störfall in der „identischen“ Welt der nachinszenierten Wirklichkeit agieren.

Wie sehen die nächsten Schritte aus? Der Realityblick , der sich im Fernsehen normalisiert (aus dem visuellen Klatsch wird immer wieder die Versicherung des Codes: Was der Nachbar, die alte Sau, treibt, wird spätestens in der Reality-Gerichtsshow wieder zur Verhandlung dessen, was man tut und was nicht), muss immer wieder dramatisch überhöht werden. Der noch ins Kino gehende Mittelstand will seine Wirklichkeit (Beziehungsprobleme, Familiengespenster, Geldsorgen und die sich daraus ergebenden Katastrophen und Peinlichkeiten) mit Goldrand haben.

Das Künstliche verschwurbelt sich in der Selbstreflexion, das Authentische muss sich gewaltsam rekonstruieren und wird doch immer nur wieder zur jeweils neuesten Art des Wirklichkeitsfetisch. Kurzum: Im Kino verhalten sich das Wirkliche und das Künstliche wie ein endlos geflochtenes Band. Je wirklicher etwas bei der einen Umdrehung, desto künstlicher ist es in der nächsten. Aber selbst das Spiel der gegenseitigen Verwandlungen droht in der Routine der Produktionen seinen Reiz zu verlieren. Wie sich die Kinofiktion und die mediale Realitätskonstruktion begegnen, das zeigt zum Beispiel die neueste Variante der „Halloween“-Serie: Die Kinofigur des maskierten Mörders bricht in eine Realityshow des Fernsehens, in die Big-Brother-Situation der Wirklichkeit als geschlossener Raum ein. Besonders aufregend ist das nicht. Die Wirklichkeit ist eine Schimäre; je mehr davon das Kino zulassen will, desto mehr davon verschwindet. Das Künstliche dagegen ist etwas Reales. Da weiß man, was man hat.

Nur manchmal ist das Kino auch realistisch. Dann glaubt es an sich selbst. Immer seltener, offenbar.