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Morde ohne Muster

Washington in Angst: Der „Sniper“ erschießt wahllos Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht und Hautfarbe

„Laufen Sie zickzack. Stehen Sie nicht bewegungslos. Halten Sie Ihre Tasche vor die Brust!“

aus Washington MICHAEL STRECK

Was weder die Anschläge vom 11. September noch die Briefe mit Anthraxerregern schafften, gelingt nun einem mysteriösen, kaltblütigen Heckenschützen: den Menschen im Großraum Washington eine Angst in den Nacken zu setzen, die sie nicht mehr vor die Haustür gehen lässt. Galt damals – „jetzt erst recht“ – patriotisches Shopping und mutiges Öffnen der Post, verbreitet der Serienkiller einen bislang unbekannten Schrecken, der mit seiner jüngsten Nachricht einen neuen Höhepunkt erreicht. Das Gesicht von Fahndungsleiter Charles Moose war fast versteinert, als er am Dienstagabend vor Journalisten folgende Botschaft des Mörders, die am Tatort des vorletzten Verbrechens gefunden wurde, verlas: „Eure Kinder sind nicht sicher, ganz gleich, wo, und ganz gleich, wann.“ Bereits einmal hatte der Todesschütze auf einen 13-jährigen Schüler gezielt und ihn schwer verletzt.

Der inzwischen im ganzen Land bekannte Moose nutzte Kameras und Mikrofone dann ein weiteres Mal, um einen Appell an den Mörder zu richten, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen. In einer ausschließlich zum Zwecke der Kommunikation mit dem unbekannten Schützen angesetzten Pressekonferenz übermittelte Moose ihm die Botschaft, dass auf „elektronischem“ Wege nicht seinen Wünschen entsprochen werden könne. „Wir bleiben jedoch offen und sind bereit, über die Möglichkeiten zu sprechen, die Sie erwähnt haben“, sprach Moose über das Fernsehen mit dem Phantom. Dieses habe erklärt, „dass es um mehr geht als um Gewalt“. Die nebulösen Aussagen werden von Experten als Hinweise angesehen, dass der Heckenschütze in seiner Notiz vom Samstag auch eine Geldforderung gestellt hat, über die in verschiedenen Medien bereits spekuliert wurde. Angeblich handelt es sich um einen Betrag von 10 Millionen Dollar.

Der Kontakt zwischen Polizei und Serienkiller scheint jedoch weitaus intensiver, als die Ermittler die Öffentlichkeit die vergangenen Tage glauben ließen. Ständig kommen neue Einzelheiten ans Tageslicht. Demnach hat die Polizei nach dem Anschlag vom Samstag in Virginia einen Anruf erhalten, in dem eine unbekannte Stimme mit ausländischem Akzent einen Hinweis auf ein Schreiben am Tatort gegeben haben soll. Der Anrufer habe dabei einen Stimmenverzerrer benutzt. In Tatortnähe habe die Polizei dann tatsächlich einen handgeschriebenen Brief gefunden, dessen Inhalt mit der Warnung an die Kinder Moose dann schließlich nach längerem Zögern preisgab. Zuvor hatte der Täter lediglich mit einer Tarotkarte mit der Aufschrift „Lieber Polizist, ich bin Gott“ auf sich aufmerksam gemacht.

Je größer das Rätsel, desto größer die Angst. Dabei schien am Montag für kurze Zeit das Ende der Mordserie so nahe. Die Polizei hatte zwei Verdächtige festgenommen. Doch die Männer aus Zentralamerika waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie wurden in der Nähe des Orts in Virginia aufgegriffen, wo der „Sniper“ am Samstag einen Mann durch einen Bauchschuss schwer verletzt hatte. Einer der Verdächtigen hatte zuvor ein öffentliches Telefon benutzt, von dem aus der Serienmörder ebenfalls telefoniert haben soll. Zudem fuhr er einen weißen Minivan, einen Fahrzeugtyp, von dem aus auch der Todesschütze operieren soll.

Schon am Dienstagmorgen schlug der Heckenschütze wahrscheinlich wieder zu. Ein 35-jähriger Busfahrer, Vater zweier Kinder, wurde aus dem Hinterhalt erschossen. Der Täter kehrte damit wieder in den Bezirk Montgomery im Bundesstaat Maryland zurück, wenige Autominuten nördlich der US-Hauptstadt. In dieser Region begann der Mörder am 2. Oktober seine Verbrechensserie mit fünf Anschlägen innerhalb eines Tages. Nun suchen die Fahnder fieberhaft nach einem Zusammenhang, nach einer Spur, was den Serienmörder mit dieser Gegend verbindet, die zu den wohlhabendsten Bezirken in den USA gehört und von der aus viele Menschen nach Washington zur Arbeit fahren. Denn bislang ist kein Handlungsmuster des Attentäters erkennbar, wahllos zielt er auf Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht und Rasse. Einzig seine Tötungsmethode bleibt immer gleich: Er streckt seine Opfer aus großer Distanz mit einem Schuss nieder.

„Eure Kinder sind nicht sicher, ganz gleich, wo, und ganz gleich, wann“

Solange der Todesschütze jeden Moment wieder abdrücken kann, ist Washingtons Suburbia wie gelähmt. Jeder, der lange genug auf der Straße stillsteht, kann ins Visier genommen werden. Radio- und Fernsehsprecher bieten daher „Überlebenstipps“ für den öffentlichen Raum: „Laufen sie zickzack. Stehen Sie nicht bewegungslos herum. Halten sie Ihre Tasche vor die Brust!“ Da verkriechen sich die Menschen lieber in ihren Wohnungen. Manche trauen sich nur noch mit kugelsicherer Weste vor die Tür und an die Zapfsäule. Viele verlassen ihr Haus nur noch zur Arbeit und bestellen ihre Waren lieber im Internet. Restaurants sind leer, ebenso Bushaltestellen und Parkplätze. Tankstellen, Cafés und Supermärkte klagen über mangelnden Umsatz. Schulen sind geschlossen, Sportveranstaltungen im Freien werden abgesagt. Viele Gegenden wirken wie ausgestorben. Polizisten sind oftmals die einzigen Menschen, die an Straßenkreuzungen, vor Schulen und Einkaufszentren zu sehen sind.

Doch wer die Jagd auf den „Sniper“ verfolgen will, muss nur den Fernseher anschalten. „Reality-TV“ wie es für die Sendestationen besser kaum sein könnte. Die Einschaltquoten sind in die Höhe geschnellt, die Fahndungsberichte gleichen immer mehr einer schlechten Vorabendkrimiserie, und alle zwanzig Minuten gibt es „Breaking News“, auch wenn es gar nichts Neues zu berichten gibt. Längst ist das Phantom zum Medienhype geworden. Die Polizei, die glaubt, die Medien als Draht zum Mörder nutzen zu können, die Journalisten und das Fernsehvolk gehen dabei eine für manche Beobachter befremdliche Allianz mit dem Täter ein. Manche Stimmen warnen bereits vor den „exibitionistischen“ Fahndungsmethoden, und Kritiker sehen die Arbeit der Ermittler durch den Medienrummel eher behindert. Andere argumentieren, dass die eigentliche Fahndung, geschützt durch den Medienlärm, im Hintergrund agieren könne. So durchsuchen 200 FBI-Ermittler Archive des US-Militärs nach ausgebildeten Scharfschützen, analysieren Waffenkäufe der letzten Wochen und gehen einer Flut von Hinweisen aus der Bevölkerung nach.

Interessiert noch jemand der Irak? Die öffentliche Aufmerksamkeit ist von der Mordserie völlig absorbiert, doch eher wie bei einer „Actionserie“. Fieberhaft verfolgt man die sich überschlagenden Ereignisse, ohne ernsthaft über mögliche politische Konsequenzen nachzudenken. Zwar haben die Verbrechen eine verhaltene Debatte über strengere Waffengesetze ausgelöst. Doch US-Präsident George W. Bush lehnt jede Verschärfung bestehender Regelungen ab, da er solche Schritte als Angriff auf die Freiheit der Persönlichkeit betrachtet. Und die im Bundesstaat Maryland um das Gouverneursamt kämpfende Kathleen Kennedy Townsend, die angesichts der Mordserie eine Art polizeiliches Führungszeugnis für alle Waffenkäufer fordert, muss sich von ihrem republikanischen Rivalen vorwerfen lassen, die Sache für Wahlkampfzwecke zu missbrauchen.

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