piwik no script img

„Ich bin nicht für frühe Auslese“

Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel wäre beinahe auf der Sonderschule gelandet. Heute zieht er daraus eigene Schlüsse für die Schulpolitik. Gabriel über Lehrer, das Unternehmen Schule und die Bildung in Wahlkampfzeiten

Orientierungsstufe macht Gute nicht richtig gut – und Schlechte nicht besser

Interview JÜRGEN VOGES und RALPH BOLLMANN

taz: Herr Gabriel, Ihre Bildungslaufbahn hätte Sie beinahe in die Sonderschule geführt. Wie kam das?

Sigmar Gabriel: Eine Lehrerin meinte, ich sollte nicht weiter auf die Realschule gehen. Damals durchlitt ich gerade die lange Trennungsphase meiner Eltern. Deswegen tendierten nicht nur meine schulischen Leistungen gegen null, sondern ich war – vorsichtig formuliert – auch verhaltensauffällig.

Zeigt das Beispiel, dass man Kinder nicht zu früh auf ihre endgültige Schullaufbahn festlegen sollte?

Es zeigt, dass man nicht vorschnell über Kinder und Jugendliche urteilen soll. Als meine Eltern endlich geschieden waren, habe ich auf der Realschule binnen eines Jahres zu den besten Schülern gehört. Später habe ich sogar Abitur gemacht.

Damit haben Sie noch nichts zu der Frage gesagt, ob man Schüler früh nach Schultypen aussortieren sollte.

Sehen Sie, ich bin in Goslar in einem Viertel aufgewachsen, in dem fast alle Kinder zur Hauptschule mussten. Die Eltern meinten, nach neun Schuljahren müsse endlich Geld ins Haus kommen. Deswegen bin ich überhaupt nicht für frühe Auslese.

Trotzdem haben Sie in Niedersachsen die Orientierungsstufe in Klasse fünf und sechs abgeschafft. Damit haben Sie die Auslese um zwei Jahre vorverlegt. Die Pisa-Studie legt das Gegenteil nahe: Kinder sollen so lange wie möglich zusammen lernen.

Unsere eigenen Untersuchungen zeigen aber, dass sich gerade die Orientierungsstufe sozial höchst selektiv ausgewirkt hat. Sie hat die Guten nicht richtig gut gemacht – und die Schlechten nicht besser. Deshalb haben die Lehrer schon bisher zu der Hilfskrücke gegriffen, die Klassen in verschiedene Kurse aufzuteilen. Offenbar war es ein frommer Wunsch, Schüler mit derart großen Leistungsunterschieden gemeinsam zu unterrichten.

In den besten Pisa-Ländern können die Lehrer mit solchen Leistungsunterschieden gut umgehen, es ist eine Selbstverständlichkeit für sie. Warum bilden Sie also nicht Lehrer besser aus, statt die Orientierungsstufe abzuschaffen?

Das eine geht nicht ohne das andere. Wir haben eine neue zweigeteilte Förderstufe geschaffen, in der die Schüler immer noch weit stärker gemischt sind als im dreigliedrigen Schulsystem. Ich will ja keine abstrakten Schulformen fördern, sondern konkrete Schülerinnen und Schüler.

Alles, was nur entfernt nach langer Grundschule oder gar Gesamtschule klingt, hat in Deutschland einen miserablen Ruf. Zielt Ihre Reform daher auf die Landtagswahl, die Sie bald zu bestehen haben?

Wenn es nach den Wahlaussichten ginge, hätte ich das Thema Bildungspolitik niemals anfassen dürfen. Seit den schweren Schulkriegen der Siebzigerjahre galt für alle Politiker die Parole: bloß nicht daran rühren, das gibt nur Ärger.

Und das Beispiel Hessen, wo die SPD 1999 wegen ihrer miserablen Schulpolitik abgewählt wurde, steht Ihnen überhaupt nicht vor Augen?

Da ging es um das Thema Lehrermangel, nicht um eine grundsätzliche Schulreform. Wir in Niedersachsen haben bereits zwei Jahre vor Pisa mit der Arbeit begonnen. Wenn man aus der Wirtschaft jahrelang die Klagen über mangelnde Leistungen der Schulabgänger hört, kann man das nicht ignorieren. Wo viel Rauch ist, da muss auch irgendwo ein Feuer sein.

Was wollen Sie tun?

Wir wollen die Qualität der Ergebnisse besser sichern als bisher – durch Leistungstests und regelmäßige Evaluation. Aber wir wollen den Schulen selbst überlassen, wie sie diese Ziele erreichen.

Welche Vorbilder haben Sie für diese Reform?

Wir haben bei den internationalen Pisa-Siegern etwas Interessantes gefunden – was sich derzeit leider nur schwer auf Deutschland übertragen lässt: Dort besteht das Schulpersonal zu einem Drittel aus Assistenzkräften, Hilfslehrern, die eine wichtige Rolle bei der sozialen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen spielen.

Und Sie wollen jetzt auch solche Hilfslehrer?

Ja, aber wir wissen nicht, wie wir sie bezahlen können. In Skandinavien erhalten die Lehrer ein Drittel weniger Geld als bei uns. Trotzdem ist ihr Ansehen in der Gesellschaft größer.

Das heißt: Sie wollen die Lehrergehälter kürzen?

Nein, aber wir können zum Beispiel die Ressourcen, die durch sinkende Schülerzahlen frei werden, für solches Assistenzpersonal verwenden. Das geht natürlich nicht kurzfristig.

Sie haben die Lehrer jüngst als „veränderungsunwillig“ bezeichnet …

… Sie täuschen sich. Ich meinte nicht die Lehrer, sondern die Verbandsfunktionäre. Und dazu stehe ich.

Also bleiben Sie auch dabei, mehr ökonomischen Druck auf Lehrer auszüben?

Ich habe nur gesagt: Diese Veränderungsunwilligkeit der Verbände kommt daher, dass die Lehrer keinem ökonomischen Druck ausgesetzt sind.

Wie soll sich das ändern?

Indem wir ein System leistungsorientierter Besoldung einführen – ähnlich wie an Hochschulen. Die Schulleitung könnte dann über ein Budget verfügen, aus dem sie besondere Leistungen extra honoriert.

Welche zum Beispiel?

Alles, was außerhalb des normalen Unterrichts stattfindet. Schule ist ja ein pädagogisches Gesamtkunstwerk. Und dazu gehören eben auch Theatergruppen oder Klassenfahrten.

Das heißt doch künftig: Lehrer, die keine Zusatzleistungen erbringen, verdienen weniger als bisher?

Der erste Schritt wäre, dass wir besondere Leistungen nicht mehr wie bisher mit Freistunden belohnen. Es ist doch widersinnig, dass gerade die engagierten Lehrer weniger unterrichten sollen als ihre Kollegen, die nur nach Vorschrift arbeiten. In der Industrie ist es selbstverständlich, dass das Leitungspersonal unentgeltlich Überstunden zu leisten hat.

Dazu passt, dass Sie Schulen zu selbstständigen Unternehmen machen wollen. Fürchten Sie nicht, dass dabei bessere Schulen in gutbürgerlichen Vierteln und schlechteren an Brennpunkten entstehen?

Die Erfahrungen sind doch umgekehrt: Wo die Probleme am größten sind, gibt es auch die größte Kreativität. Bislang wird die Kreativität allerdings durch rigide Vorgaben behindert, etwa durch die genau festgelegte Stundentafel oder durch die Vorschriften zur Klassengröße.

Können Sie uns erklären, warum das Aufregerthema Bildung im Wahlkampf überhaupt keine Rolle mehr spielt?

Es wird wieder kommen – spätestens wenn nach der Wahl die nächsten Pisa-Ergebnisse herauskommen. Am schlimmsten wäre es, wenn wir das Thema wieder der Kultusministerkonferenz überlassen – auch wenn ich nicht zu jenen Populisten gehöre, die dieses Gremium für überflüssig halten.

Dann wäre ja der Bundeskanzler Populist: Er forderte jüngst die Abschaffung der Kultusministerkonferenz.

Ich stimme Gerhard Schröder zu: In ihrer bisherigen Form hat die Kultusministerkonferenz mangelhaft gearbeitet. Aber ich will keine Bundesbildungsbehörde, die alle Schulen in Deutschland zentralistisch verwaltet. Ich bin für Wettbewerb auch zwischen den Bundesländern: Wir brauchen einheitliche Qualitätsstandards – aber jedes Land muss selbst entscheiden, wie es diese Standards erfüllt.

Brauchen wir dazu ein Rahmengesetz, wie es für den Hochschulbereich existiert?

Es muss nicht unbedingt ein Gesetz sein. Was wir brauchen, ist eine Agentur, die bundesweit über die Einhaltung der Qualitätsstandards wacht. Sie muss unabhängig von politischen Einflüssen arbeiten können.

In der Bundespolitik stehen nach dem 22. September harte politische Einschnitte bevor. Hat Ihnen Gerhard Schröder für den Fall seiner Wiederwahl zugesichert, dass er damit bis nach der Wahl in Niedersachsen wartet?

Da ich nicht so feige bin wie die CDU-Politiker Roland Koch in Hessen und Christian Wulff in Niedersachsen, habe ich solche Zusicherung nicht nötig.

Wäre es für Ihre Wiederwahl günstiger, wenn eine CDU-Bundesregierung das Sparen übernehmen müsste?

Mir ist jede Bundesregierung lieber, die von Gerhard Schröder geführt wird. Einfach wird es auch dann nicht, aber wenigstens gerecht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen