Die Verhafteten und ihre Lebensläufe, die das Unerklärliche nicht erklären

Der 17-jährige Malvo war Muhammads Karateschüler. Viel mehr weiß man nicht.

aus Washington BERND PICKERT

Sieht so ein Dämon aus? Einer, der kaltblütig auf wehrlose Menschen schießt, die ihm nichts getan haben? Einer, der nicht Amok läuft und im Blutrausch auf alles schießt, was ihm vor die Flinte kommt, sondern der wochenlang, geplant, in einem zur Sniper-Plattform umgebauten Auto durch die Gegend fährt und tötet? Und dieser Jugendliche mit dem breiten Lachen. „Irgendwie süß“, wie ihn eine ehemalige Klassenkameradin beschreibt, sieht er auch aus. Die Wirklichkeit castet eigenwillig.

Aber es ist nicht nur das Lachen von John Allen Muhammad, 41, und John Lee Malvo, 17, das nicht richtig zu der Tat passen will, die den beiden vorgeworfen wird. So viel die US-Medien seit Bekanntwerden der beiden Namen zusammengetragen haben, so wenig gelingt es auch ihnen, die Informationen mit dem Bild zusammenzubringen, das Profiler, Psychologen und die Medien selbst in den drei Wochen Scharfschützenangst von dem Täter gezeichnet haben.

Mit 18 Jahren trat John Allen Williams, nach einer unspektakulären Kindheit in Baton Rouge, Louisiana und nachdem er seine erste große Schulliebe geheiratet hatte, in die dortige National Guard ein. Zwischen 1978 und 1985 diente er, trennte sich von seiner Frau, schrieb sich dann in die Armee ein, war zunächst in Fort Lewis im Bundesstaat Washington stationiert, wurde 1990 nach Deutschland verlegt, nahm von dort aus 1991 als Maschinist am Golfkrieg teil, kehrte 1992 in die USA zurück und blieb noch drei Jahre in der Armee, bis er 1994 ehrenhaft und dekoriert entlassen wurde. Zum Scharfschützen war er nicht ausgebildet worden, doch erhielt er eine Auszeichnung für den gekonnten Umgang mit dem M-16-Gewehr, der militärischen Version jener Waffe, mit der in den letzten drei Wochen zehn Menschen in der Umgebung der US-Hauptstadt erschossen und drei weitere verletzt wurden.

Ein Jahr lang, bis 1995, dient er nach seiner Entlassung noch in der National Guard des Staates Oregon. Dann nichts mehr. Die Sicherheit der militärischen Karriere ist vorbei, der Versuch, sich als Automechaniker selbstständig zu machen, scheitert, nur Gelegenheitsjobs halten ihn über Wasser. 1997 versucht er mit seinem Partner Felix Strozier, eine Karateschule aufzubauen. Ihre Geschäftsbeziehung zerbricht, als Muhammad sich 500 Dollar aus der Geschäftskasse borgt, die er nie zurückzahlt. Die Karateschule schließt 1998. Nach der Trennung von seiner zweiten Frau 1999 verliert er sein Zuhause, wird schließlich obdachlos.

Mitte der 80er-Jahre konvertiert Williams zum Islam, nennt sich seither Muhammad, wird, so beschreiben es Bekannte, immer stärker in seinem Glauben, strenger in den Formen. Beim „Million Man March“ der Nation of Islam 1995 soll er dabei gewesen sein, berichtet Felix Strozier. „Je mehr ich heute darüber nachdenke, desto mehr scheint es mir, als ob ich ihn vor allem als bitteren, über das Leben verbitterten Menschen erlebt habe“, sagt Strozier.

Ein verbitterter Mensch? Mit dieser Einschätzung steht Strozier fast allein. Die stärksten Worte über Muhammad finden seine beiden Exfrauen. Carol Williams, seine Jugendliebe und erste Ehefrau, focht mit Muhammad einen Sorgerechtsstreit um den heute 20-jährigen gemeinsamen Sohn aus – Verwandte berichten, dass dieser nach einem längeren Aufenthalt bei seinem Vater 1994 20 Pfund abgenommen habe; Muhammad hätte ihn gezwungen, militärische Übungen abzuhalten und sich streng nach islamischen Vorschriften zu ernähren.

Mildred Diane Muhammad, seine zweite Frau, die er 1988 geheiratet hatte und die sich 1999 von ihm trennte, erwirkte vor Gericht einen Bann für ihren Exmann und gab mehrfach zu Protokoll, sie habe große Angst vor ihm. Er habe mehrmals gedroht, ihr Leben zu zerstören.

Über die Beziehung von Muhammad zu dem 25 Jahre jüngeren John Lee Malvo ist derzeit noch wenig bekannt. Zwar gibt sich Muhammad als Stiefvater Malvos, und er soll bis Ende vergangenen Jahres eine Beziehung zu dessen Mutter gehabt haben. Sicher ist aber nur, dass Malvo 1997/98 Schüler in der Karateschule war, dass er in Bellingham bei Tacoma zur Schule ging und dass er sich zur Jahreswende 2002 von seiner Mutter trennte und gemeinsam mit Muhammad in einem Obdachlosenheim lebte, bis die beiden im Frühsommer dieses Jahres zu einer Reise aufbrachen, die erst vorgestern mit ihrer Verhaftung auf einem Autobahnparkplatz in Maryland zu Ende ging.

Noch weiß niemand Einzelheiten dieser Reise. Und bislang scheitern Versuche, eine klare Linie zu ziehen zwischen den bekannten Lebensläufen der beiden und den Taten, für die sie jetzt verhaftet wurden. Die Kategorien, die da gebracht werden – Antiamerikanismus? Sympathie für die Attentäter vom 11. September? – wirken wie platte Versuche, das Unerklärliche zu erklären.

Noch bevor über die möglichen Motive irgendetwas bekannt ist, ist die Diskussion darüber entbrannt, in welchem Bundesstaat unter welcher Anklage das Leben der beiden am besten beendet werden könnte. Maryland erscheint logisch, weil die meisten der zehn Morde dort stattgefunden haben, hat aber seit Wiedereinführung der Todesstrafe nur vergleichsweise wenige Menschen exekutiert und derzeit gar ein Hinrichtungsmoratorium. Virginia erscheint da geeigneter: Der Bundesstaat führt nach Texas die Liste mit den meisten Exekutionen an. Möglich, dass Malvo und Muhammad sterben, ohne dass irgendjemand je verstehen wird, was eigentlich passiert ist in diesem Oktober in Washington, D. C.