Die nur den Krieg kennen

Die Männer und Frauen des Himmelfahrtskommandos haben nichts mehr zu verlieren – und setzten der russichen Brutalität nur die eigene entgegen

Der russische Staatsterror wird unerbittlich zurückschlagenReligiöse Aspekte spielen in dem Konflikt eine untergeordnete Rolle

von KLAUS-HELGE DONATH

Eine neue Generation tschetschenischer Rebellen und Geiselnehmer hat in Moskau die Szene betreten. Der 27-jährige Anführer des Terrorkommandos Mowsar Barajew verkörpert einen Typus Terrorist, der nur noch den Krieg kennt, mit dem Russland seit zehn Jahren den Kaukasus überzieht. Drill und Ideologie erhielt Barajew in Ausbildungscamps in den tschetschenischen Bergen, die von fundamentalistischen Geldgebern radikaler islamischer Staaten unterhalten wurden. Als Mudschaheddin und Gotteskrieger gehört er dem „Jamaat“, einer militärisch religiösen Gemeinschaft, an, die ultraradikale Vorstellungen eines Gottesstaates vertritt.

Russland kannte seit Jahren die Stützpunkte der Fundamentalisten in der kaukasischen Bergregion, ohne ihnen das Handwerk zu legen. Barajew gehört zu einer kompromisslosen Generation von Gotteskriegern, mit denen Verständigung kaum noch möglich sein dürfte. Im Unterschied zu den Rebellen der ersten Generation, dem ehemaligen Volkshelden Schamiil Basajew und dem Feldkommandeur Salman Radujew, verbindet Mowsar Barajew nichts mehr mit dem russischen Kolonialherren – sie sprechen meist nicht mal mehr dessen Sprache.

Auf den Vernichtungskrieg der Russen glauben sie nur mit denselben Mitteln antworten zu können. Daher scheint es eher unwahrscheinlich, dass das Drama im Moskau demnächst zu einer Verhandlungslösung führen könnte. Barajew stammt aus Alchan Kala in der Nähe von Grosny. Im April und Mai hat die russische Armee fast drei Wochen lang diesen 20.000-Seelen-Ort hermetisch abgeriegelt und „Säuberungen“ durchgeführt, bei denen dutzende von Einwohnern auf brutalste Weise ermordet und entführt wurden. Besonders auf die Jugendlichen haben es russische Militärs abgesehen. Mit einigen Jugendlichen, die mehrfach verhaftet, gefoltert und von ihren Eltern gegen hohe Lösegeldsummen freigekauft worden waren, sprach die taz im Sommer vor Ort. Sie bekannten sich zu den radikalen islamistischen Mudschaheddin, aber nicht aus religiösen Motiven. Sie begreifen die Rebellen als Freiheitskämpfer, die sich von den Russen nicht widerstandslos zur Schlachtbank führen lassen.

Der religiöse Aspekt spielt eine untergeordnete Rolle. Sie betonen, es sei der Krieg gewesen, der den Terror hervorgerufen hat, nicht der Terror den Krieg. Unter den Jugendlichen hat der Wahhabismus in der Tat Zuläufer, aber selbst in Alchan Kala sind es höchstens eine Hand voll, die sich dazu bekennen.

In der unzugänglichen Bergregion, wo sich die Freischärler gewöhnlich aufhalten und russische Truppen selten hingelangen, steht die Mehrheit der Bevölkerung den Fundamentalisten kritisch gegenüber. Es gibt in Tschetschenien keine Tradition eines tief religiösen Islams. Daran hat auch der russische Vernichtungsfeldzug nur wenig ändern können. Nach wie vor spielen in der Kaukasusrepublik der Adat, eine Art Gewohnheitsrecht, das gewisse Äußerlichkeiten des Islam übernommen hat, und die Interessen des Sippenverbandes die entscheidende Rolle. Im Selbstverständnis des Volkes und der tschetschenischen Intelligenz tauchten religiöse Motive bis zum ersten Tschetschenienkrieg 1994 überhaupt nicht auf.

Als die russische Armee in Tschetschenien einrückte, hatten die Fundamentalisten in der dortigen Bevölkerung kaum Rückhalt. In den überschaubaren dörflichen Gemeinschaften blieb nicht verborgen, wer sich der wahhabitischen Soldateska anschloss. Elemente, die oftmals die Religion als Tarnkappe nutzen, um sich zu bereichern. Die Übergänge zwischen Freiheitskampf und Kriminalität sind fließend.

Mowsar Barajews Vorbild und Onkel, Arbi Barajew, der vor einem Jahr ums Leben kam, ist dafür ein Musterbeispiel. Der gefürchtet Feldkommandant verdiente auch nach Ende des ersten Krieges 1996 sein Geld durch Entführungen. Ob er Tschetschenen, Muslime, Russen oder Christen entführte, war nebensächlich. Die Bestialität, mit der Barajew seine Opfer behandelte, steht der der russischen Invasoren in nichts nach. Nur: Die Kriegsmaschinerie von 120.000 russischen Truppen konnte den Verbrechern im Namen Allahs in drei Jahren nichts anhaben. Vielmehr liegen unzählige Beweise vor, dass Militärs und tschetschenische Kriminelle auf engste kooperieren, nicht nur beim Waffenhandel. Der russische Staatsterror wird nach dem Ende des Geiseldramas von Moskau mit noch unerbittlicherer Härte zuschlagen und die Reihen der Fundamentalisten aufstocken.

Die Geiselnehmer müssen sich darüber im Klaren gewesen sein. Sie begehen inzwischen nicht nur ein Verbrechen gegen unschuldige Fremde, sie liefern auch dem Kreml eine Rechtfertigung frei Haus, den Genozid am tschetschenischen Volk fortzusetzen.