: berliner szenen Die Schrift an der Wand
Trunkenes Schiff
Am vergangenen Wochenende begab sich im Leben des Kulturredakteurs K. ein peinlicher Moment. K. war in der Kreuzberger Bar „Bateau Ivre“ gewesen, wie schon einige Male zuvor. Wie jedesmal war ihm aufgefallen, dass die Wand rechts von der Eingangstür mit einem Stoff bespannt war, auf dem etwas geschrieben stand. Wie so oft hatte er, an einem Tisch direkt vor der Schrift platziert, einzelne Wörter gelesen – etwas übers Meer, über Wolken und Länder, über einen Menschen, der offensichtlich einem komplizierten Satzbau anhing.
Tja. Doch erst am vergangenen Wochenende hat K. dann endlich den Zusammenhang begriffen. Die wandgroße Schrift stellt ein Gedicht dar, nein, nicht irgendein Gedicht, das berühmteste Gedicht von Arthur Rimbaud, 1871 geschrieben, mindestens ein dutzend Mal ins Deutsche übersetzt (unter anderem von Paul Celan) und eben auch Namensgeber für die beliebte Bar am Heinrichplatz: Die wandgroße Schrift ist das Gedicht „Das trunkene Schiff“, auf Französisch „Le Beteau Ivre“. K. musste sich schon sehr über sich wundern, dass ihm das bisher nicht aufgefallen war. Zum Glück für ihn war in diesem Moment niemand da, vor dem er sich hätte schämen müssen. Nur vor sich selbst schämte sich K. dann wohl doch noch ein bisschen.
Jedenfalls sah man K., während alle anderen Gäste in Gespräche vertieft waren, an jenem Abend dann viel auf die Wand starren. Beinahe verrenkte er sich den Hals, um das Gedicht ganz lesen zu können. Wer ihn beobachtete, konnte den Eindruck gewinnen, dass sein Geist in schwerer See war. Aufgewühlt wirkte K. Es gibt, so sollte er später sagen, eben an jedem Ort noch Entdeckungen zu machen.
DIRK KNIPPHALS
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