Markt der Ängste

„Sichere Innerheit“ als Werbegag, Selbstverteidigung als Credo: Die Reihe „Formel 3“ zeigte Inszenierungen junger Hamburger RegisseurInnen

Politisches Bewusstsein des Publikums per Messgerät eruiert

von CHRISTIAN T. SCHÖN

Nicht Karies, Parodontose und Zahnstein standen im Zentrum von Formel 3, sondern drei Abende mit vier erfrischenden Stücken der jungen RegisseurInnen vom Studiengang Schauspieltheater/Regie. Drei der vier Inszenierungen auf dem Festival Politik im Freien Theater im Neuen Cinema waren der eher klamaukigen Art – was dem Ernst der Themen auf angenehme Weise etwas Schwere nahm.

Das Stück Rette sich, wer kann! war als Seminar für Überleben in Extremsituationen angelegt, das seinen Stoff aus dem „Großen Buch der Überlebenstechnik“ bezieht, das, so Regisseurin Susanne Reifenrath, Handlungen auf niedrigstem Verantwortungsniveau enthalte. Präventivangriff und Selbstverteidigung werden in der Inszenierung propagiert, gemischt mit semi-psychologischen Kalendersprüchen: „Da, wo die Angst ist, da geht‘s lang!“ Das Comedy-Spiel der DarstellerInnen ließ jedoch kaum Platz für die Entfaltung der überzeichneten Überlebenstipps und blieb recht allgemein.

Eines wirklich heißen Eisens nahmen sich Sibylle Dudek und Johannes Weisser an: Das Totschlag-Argument „Innere Sicherheit“ wird in ihrem Stück Sichere Innerheit als künstliches Bedürfnis produziert. Allheilmittelchen wie ein CD-Soundtrack, Parfum („Duften Sie nach Innerer Sicherheit!“), eine Anti-Angst-Lampe („Alles wird gut“), Badezusatz und ein T-Shirt werden per Homeshopping-Videos von Michael Kesting beworben. Sichere Innerheit enttarnt die Vermarktung von Ängsten als Inszenierung von Stereotypien.

Das Stück gewinnt dem Thema die lächerliche Komponente ab, die sie enthält: Ein Test mit dem „Innere-Sicherheit-Survival-Kit“ auf dem Steindamm (per Video in den Theaterraum übertragen) verläuft erfolgreich und steigert den „IS-Quotienten“ der Probanden von 85 auf 97. Dass Medien die Ursachen „innerer Unsicherheit“ konstant und einseitig in der Existenz von Junkies, Obdachlosen und Ausländern suchen, tritt bei Sichere Innerheit allerdings in den Hintergrund.

Friederike Czeloth und Jan Behrs haben für ihr Konzept nach politischen Strukturen im Theater gefahndet und wollen ein Publikum, das sich provoziert fühlt. Ihr Stück heißt: Anna Buller testet. Anna Buller – in Military-Dress und mit einer menschlichen Barbie als Assistentin – ermittelt das politische Bewusstsein des Publikums mittels einer John-Bock-artigen, aus Waschlappen und Plastikschläuchen gefertigten Messapparatur und lässt „Buh!“-Ruf-Karten an Zwischenrufer verteilen. Anna Buller verteidigt das Theater „gegen alle Feinde“ und gibt mit den angezettelten Provokationen ein kautziges, konsequentes Bekenntnis zur Theaterkunst und eine Absage an ritualisierte Skandale: „Hier wird Steuergeld verprasst!“

„Der Mensch, der zu sterben weiß, das muss ein großer Anblick sein.“ Mit diesen Worten verbindet Roger Vontobel in [fi‘lo:tas] die Biographie des US-Taliban John Walker Lindh mit Lessings Philotas. Spielten die vorhergehenden Arbeiten von der Bühne aus mit der Angst der Zuschauer, erfährt Walker (Jana Schulz) die hin- und herreißenden Kräfte der Angst hier am eigenen Leib: der Angst, kein eigenes Ziel im Leben zu finden.

Was für Lessings Philotas Ruhm und Ehre fürs Vaterland waren, ist für Walker das Bekenntnis zu den Taliban. „Ein kindlicher Einfall“ vielleicht, wie er zugibt, ein glücklicher, „weil ich noch keinen glücklicheren gehabt habe“. Die Besetzung der männlichen Rolle mit Jana Schulz, die mit brüchiger, kindlicher Stimme das Menschliche hinter dem „bösen“ 20-jährigen Gotteskämpfer hervorholt, erwies sich dabei als äußerst wirkungsvoll.

Als vielseitig und tragfähig haben sich die vier Produktionen der Formel 3-Reihe erwiesen und gezeigt, dass die jungen RegisseurInnen vor Themen nicht zurückschrecken, auf die das Theater seit Schill und dem 11. September längst Antworten gefunden haben wollte.