: Erstaunliche Standpunkte
Die vielleicht umstrittenste Aktion des Theatermachers: Das Lichtmeß zeigt heute einmalig Paul Poets Dokumentation „Ausländer raus! – Schlingensiefs Container“
Aktionen von Christoph Schlingensief sind wie riesige Fettnäpfchen. Der Berliner Theatermacher stellt sie mit Vorliebe genau da auf, wo täglich der gesunde Alltagsverstand entlangdefiliert. Und egal ob man wegrennt, zur Salzsäure erstarrt oder reintritt, man ist Teil einer Inszenierung. Eins von ihnen pflanzte Schlingensief im Sommer 2001, im Rahmen der Wiener Festwochen, auf den Platz vor der Hofburg. Wie die Aktion verlief, dokumentiert Paul Poet in einem Film, der so temporeich wie Schlingensiefs Sprechgeschwindigkeit ist.
In einen riesigen Container aus Wellblech, mit einem großen Schild auf dem Dach, abgeschirmt von Bauzäunen, wild beklebt mit Wahlplakaten der Partei Jörg Haiders, der FPÖ, schickte „Schlinge“ 20 AsylbewerberInnen mit schwebenden Verfahren. Verkleidet waren sie und konnten wie dereinst Harry, Alex oder Sabrina im Big-Brother-Container ohne Kamera nicht einmal mittagessen, im Web war alles live zu verfolgen, für die Passanten gab es Gucklöcher.
Täglich sollte ein Mensch aus dem Container herausgewählt, also abgeschoben werden, das Schild verkündete in zwei Worten: „Ausländer raus“. Davor bildeten sich Menschentrauben, man grantelte, schimpfte, manche wurden aggressiv, andere hysterisch. Wie vom Blitz, vermutlich mitten in die Seele getroffen taumelt da die Frau im Blümchenkleid umher und schreit mit gellender Stimme: „Deutsche raus! Ausländer rein!“ Andere erbosen sich über die EU-Sanktionen gegen Österreich. Und mittendrin hüpft Schlingensief mit seinem Megaphon umher und hält schon mal ein verbales Streichholz an die Diskussionen. Er reißt die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Alltag und Theaterabend ein.
Schlingensief wirkt während der Aktion und vor allem später, beim Reflektieren im heimischen Wohnzimmer, zuweilen verwundert über die Eigendynamik seiner Aktion. So lange die Fronten klar, die Diskutanten ihm offensichtlich intellektuell unterlegen sind, funktioniert die Aktion wie alle anderen. Als aber der linke Wiener Widerstand in Form einer Demonstration sich zum Ziel setzt, die Container-Bewohner zu befreien und das Schild vom Dach zu reißen, macht sich Unsicherheit breit.
Was die Demo tatsächlich einriss, war nach Schlingensiefs Dafürhalten die Grenze zwischen ihnen und der Wiener Normalbevölkerung, denn im Endeffekt hätten sich alle um ein sauberes Österreich gesorgt. Platsch, wieder reingelatscht. Markus Flohr
heute, 20 Uhr, Lichtmeß
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