: Keine Spuren im Sand
Die einsamen Strände des nordostbrasilianischen Bundesstaates Ceará eignen sich hervorragend als Hauptdarsteller in Survival-Serien und Telenovelas: Wenn die Filmteams abgereist sind, bleiben Träume und alltäglicher Überlebenskampf
von CHRISTINE WOLLOWSKI
Eine Speisekarte? Gibt es nicht. Die Auswahl an Gerichten in seiner Strandbar zählt Zé an einer Hand ab: Frittierte Fischbällchen oder frittierte Käsebällchen oder gegrillter Fisch. Immer noch besser als rohe Ziegenaugen. Sagt Zé und grinst. In seine Kneipe kommen selten Fremde. Wenn welche kommen, sind sie meist auf Spurensuche. Weil in der Nähe des Fischerdorfs Barra da Sucatinga südlich von Fortaleza im Nordosten Brasiliens „No Limite“ gedreht wurde. In der brasilianischen Reality-TV-Serie mit Survival-Charakter haben sich ein paar geldgierige junge Leute vor Millionenpublikum auf ein ekeliges Abenteuer in paradiesischer Kulisse eingelassen. Während die Überlebensspieler rohe Ziegenaugen herunterwürgen mussten, hat José die Filmtruppe verpflegt. Hat Spiegeleier gebraten und sogar Krabben in Kokossauce gekocht. Das ist eine Weile her. Geblieben ist der Name der Bar: No Limite.
Schüchtern küsst das filmreif türkisblaue Meer den ebenso filmreif goldgelben Sand. Hinter dem nächsten Sandsteinfelsen beginnt das Ende der Welt. Bevor die brasilianischen Fernsehzuschauer die paradiesische Landschaft der Praia dos Anjos zu Hause an ihren Bildschirmen bewundert haben, hatte der Strand der Engel nicht einmal einen Namen. Fischer aus dem benachbarten Dörfchen segelten gelegentlich an der Küste vorbei. Oder suchten in den grünen Oasen inmitten der Sanddünen nach Früchten, wenn im August der Wind zu stark blies, um aufs Meer zu fahren. Nur die Abenteurer von „No Limite“ haben hier gelebt – und gehungert. Weil sie 300.000 Reais gewinnen wollten – rund 120.000 Euro. Dafür haben acht junge Leute unter Palmen campiert, sind auf den Dünen hinter Hühnern hergerannt und haben versucht, das widerspenstige Federvieh einzufangen, um es zu etwas Essbarem zu verarbeiten. Schwere Überlebensaufgaben für Menschen aus Rio und São Paulo. Für Brasiliens größten Fensehsender Rede Globo ein gutes Geschäft: Halb Brasilien hat zugesehen und Wetten abgeschlossen, wer gewinnen würde – die knackige Andrea oder die pummelige Elaine.
Auch die Bewohner von Barra da Sucatinga hingen jeden Sonntag vor dem Fernseher, um zu sehen, was die beiden Survivalteams hinter den Dünen erlebten. Live dabei sein konnten sie nicht – grimmige Wächter sperrten das Geländer um den Engelsstrand weitläufig ab. Spannend war das, findet Cristiano. Ein gutes Geschäft war es für die Leute aus Barra allerdings nicht. Cristiano hat, wie fast die ganze Dorfbevölkerung, während des Drehs für Rede Globo gerabeitet und 15 Reais – umgerechnet knapp sechs Euro – am Tag verdient. Fürs Kabel- und Proviantschleppen. Wenigstens war was los. Inzwischen ist die größte Sensation des Tages in Sucatinga wieder die Ankunft der Fischerboote.
Wenn am Horizont die weißen Segel auftauchen, läuft die daheim gebliebene männliche Bevölkerung am Strand zusammen, Kinder und Alte, Bauarbeiter und Arbeitslose. Begutachtet den Fang und gibt fachmännische Kommentare ab. Dann trägt jeder seinen Kauf nach Hause, und der Strand ist wieder leer. Fremde finden es schön in Barra da Sucatinga, weil nichts los ist.
„Wir haben zwar kein Geld, aber ein schönes Leben“, sagt einer im Dorf, der auf dem Bau arbeitet. Sein Vater war Fischer, aber das Fischen bringt in manchen Monaten weniger als den gesetzlichen Mindestlohn von 80 Euro ein. Immer weiter müssen die winzigen Jangadas mit ihren vielfach geflickten Segeln hinausfahren, um genügend Fisch zu fangen. Sie sind zu dritt unterwegs, einer steuert, einer legt die Netze aus, einer setzt das Segel. Auf dem Meer essen sie Maniokmehl und Zwiebeln, braten Fisch, wenn sie welchen gefangen haben. Oft gibt es tagelang nur Mehl und Zwiebeln. Geschlafen wird auf den schmalen Brettern, die auch als Sitze dienen. 20 Boote liegen am Strand von Sucatinga im goldgelben Sand. Wie viele Menschen hier wohnen, hat nie jemand gezählt, 800 Wahlberechtigte sind es. Die Welt beginnt an der Ortsgrenze und endet am Horizont, draußen auf dem Meer. „Ariós?“, fragt der Junge am Ortsausgang, „nie gehört.“ Ariós ist der Nachbarort, keine fünf Kilometer entfernt.
Die Strände hier im Bundesstaat Ceará sind so endlos, dass viele Zufahrten nicht einmal ein Schild kennzeichnet. Während der Karnevalswoche kommen Urlauber. Aus dem 100 Kilometer entfernten Fortaleza und sogar aus dem Ausland. Beschallen die Weite mit den neusten Hits aus ihrem Autoradio. Trinken die Biervorräste der Bars leer und fragen nach der Speisekarte. Hunderte Kilometer kaum erschlossene Küste zwischen der Partymetropole Fortaleza im Norden und Maceió im Süden. Ein ungeheures Potenzial. Glaubt Immobilienmakler Enrique Jorge. Und kauft deswegen immer größere Landstücke auf. Der zweitgrößte Investor des Bundesstaates ist nicht der einzige, der den einsamen Stränden eine große touristische Zukunft vorhersagt. Immerhin wurden vor den Traumkulissen Anfang der 90er-Jahre mehrere Telenovelas gedreht. Trotzdem kennt kaum jemand die Namen der Orte nördlich von Sucatinga: Uruaú, Diogo, Praia das Fontes und Morro Branco.
An der Praia das Fontes drängen sich die meisten Hotels an die Sandsteinfelsen. Das größte wirkt mit seinem von einer hohen Mauer umgebenen imposanten Bau wie eine Festung. Die Gäste verlassen das Hotelgelände selten, baden öfter im Pool als im Meer. Die Anwohner hoffen trotzdem. Barbesitzer auf Gourmets, die die einheimische Küche testen wollen. Selbst ernannte Touristenführer mit ihren Strandbuggys vor dem großen Tor auf Aktive, die die Umgebung erkunden wollen.
Auch Odulado hat investiert. Er ist einer der 85 Bugueiros der Gemeinde und hat vor ein paar Jahren alle seine Ersparnisse in einen knallblauen Fyber umgesetzt. Damals zog der Tourismus gerade an, ein Charterflug aus Deutschland war geplant, Verträge mit Hotels waren unterzeichnet. Inzwischen kommen wieder weniger Fremde. Aber Odualdo liebt sein staubiges Heimatdorf, wo ihn jeder kennt. Und er liebt seinen Job, wenn ihm der föhnwarme Fahrtwind durch die lockigen Haare bläst, der Sand unter den breiten Reifen aufspritzt, wenn er über die Dünen kurvt, wie in einem Achterbahnwaggon. Er findet es spannend, immer wieder neue Leute kennen zu lernen, aber auch beruhigend, die alten Freunde immer wieder zu treffen.
Morgens um sieben sind noch keine Bugueiros unterwegs. Nur ein paar Möwen segeln über dem Strand. Hufspuren im Sand zeigen, aus welcher Quelle die halbwilden Pferde trinken. Die Welt scheint unbewohnt wie vor Urzeiten. Kein Mensch, bis zur Praia do Diogo. Da hängt Ipamar in seiner Hängematte in einer leer stehenden Bar. Die hat er für einen Monat gemietet. Ipamar hat sich Urlaub genommen, um auszuprobieren, wie das Leben in der Leere so ist. An das andere Tempo im Nirgendwo hat sich der Angestellte aus Fortaleza schon gewöhnt. Schaukelt in seiner Hängematte und sieht aufs Meer oder auf die Fischerboote. Eigentlich wollte er die Bar streichen, wollte die Tische neu lackieren, wollte eine Speisekarte schreiben. Die ersten Gäste überraschen ihn unvorbereitet. Macht nichts, er wollte sowieso gerade essen. Wo es für zwei reicht, reicht es auch für vier. Reis und Bohnen, gebratener Fisch, für umgerechnet eineinhalb Euro eine riesige Portion. Wenn Ipamar von seiner Kneipe nicht leben kann, geht er eben in einem Monat wieder nach Fortaleza.
Wer keine Alternative hat, strengt sich ein bisschen mehr an. Auch wenn man das nicht immer sieht. Wie bei Carlinhos in Parajuru. Seine Bar hat er aus Kokosstämmen zusammengebaut, von den geflickten Tischen hat die Salzluft die Farbe gefressen. Kommen Gäste, brät Carlinhos Fischbällchen, kommen keine, schaukelt er in der Hängematte. Jedenfalls im Sommer. Im Winter baut er eine neue Bar. Weil das Meer jedes Jahr mehrere Meter Strand schluckt, spätestens alle eineinhalb Jahre auch die Bar. Dieses Jahr wird es wieder einmal so weit sein. Das regt ihn nicht weiter auf, ist schließlich schon das sechste Mal.
Carlinhos sieht in die Ferne. Über einem Schildkrötenkadaver kreisen majestätisch die Geier. Der Wind bläst über den Sand, von dem die Wellen längst die letzten Fußspuren gewaschen haben.
Infos: Für die Einreise nach Brasilien genügt ein mindestens noch sechs Monate gültiger Reisepass. Impfungen sind für Reisen an die Küste nicht erforderlich. Flüge nach Fortaleza zum Beispiel bei www.Varig.de. Pauschalangebote bei www.RuppertBrasil.de
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