piwik no script img

Nur die eigene Wahrheit zählt

In bewährter Manier beschlagnahmt Russlands Inlandsgeheimdienst FSB kurzerhand Computer und Server einer Zeitung. Das Boulevardblatt will in seiner kommenden Ausgabe bisher unbekannte Fakten über die Moskauer Geiselnahme präsentieren

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Mitarbeiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB haben am Wochenende die Büroräume des Boulevardblatts Versia in Moskau durchsucht und Computer sowie den Server der Redaktion beschlagnahmt. Der Geheimdienst berief sich auf eine Strafanzeige gegen das Blatt, das im Mai unter dem Titel „Maskirowka“ über unzulässige Bautätigkeiten privater Hand auf eigentlich geheimen staatlichen Objekten berichtet hatte.

Chefredakteur Rustam Arifdschanow bezweifelt die Version des Geheimdienstes. Für ihn steht außer Frage, dass mit der Beschlagnahmung des Arbeitsgeräts das Erscheinen eines vierseitigen Berichts mit Details zur Geiselbefreiung in Moskauer Musical-Theater verhindert werden soll. Der für Sicherheitspolitik zuständige Redakteur Andrej Soldatow hatte die Befreiungsaktion am 26. Oktober aus der Wohnung eines nichtevakuierten Wohnhauses in aller nächster Nähe beobachtet. Seine Angaben über Tote und Verletzte weisen erhebliche Abweichungen gegenüber den staatlichen Informationen auf. Demnach seien sehr viele Geiseln bereits tot geborgen worden, wurden aber trotzdem abtransportiert, da wohl der Eindruck erweckt werden sollte, sie seien erst nachträglich im Krankenhaus gestorben.

Hätte Soldatow recht, könnte sich das Rätsel um die Vermissten lösen: Hinter ihnen verbergen sich die Opfer, die gleich zu Anfang des Sturms durch die Sicherheitskräfte getötet wurden. Auf der russischen Website des Zentrums für Bürgerhilfe werden immer noch über 100 Menschen vermisst.

Auch das makabre und für viele Außenstehende unverständliche Versteckspiel der Verantwortlichen um die Zusammensetzung des eingesetzten Gases wird noch einmal beleuchtet. Arifdschanow ist zuversichtlich, dass Versia wie geplant am Montag mit seiner Version des Dramas erscheinen kann. Das Blatt stelle die entscheidenden Frage: „Warum werden wir belogen, wenn wir als Sieger aus der Sache hervorgegangen sind?“

Versia wurde schon einmal vor zwei Jahren von denselben FSB-Mitarbeitern heimgesucht, die damals Material über das gesunkene Atom-U-Boot „Kursk“ beschlagnahmten. In der Affäre rund um das Unglück machte Kremlchef Putin eine klägliche Figur.

Dass die Durchsuchung noch am selben Tage stattfand, unmittelbar nachdem das russische Parlament eine Verschärfung des Pressegesetzes zur Berichterstattung in Sachen Terrorismus durchgedrückt hatte, scheint vielen Beobachtern überdies auch eine recht seltsame Koinzidenz zu sein.

Das novellierte Pressegesetz stellt unter Strafe – bis zum Entzug der Lizenz –, wer terroristische „Propaganda“ verbreitet oder zu ihrer „Rechtfertigung“ beiträgt. Weder der Begriff der „Propaganda“ noch der der „Rechtfertigung“ werden im Gesetz indes inhaltlich genauer definiert, was unweigerlich der Willkür Tür und Tor öffnet. Wer an der offiziellen Darstellung Kritik übt, betreibt in dieser Lesart bereits die Sache des internationalen Terrorismus.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen