: Die Sonne ist böse
Denn sie tötet Krabben, Krebse und Hannelore Kohl. Eine Schmähschrift wider die herbstliche Sonnenanbetung
Ich gehe im Park spazieren, es ist kalt, und es könnte ein wunderschöner Spätherbsttag sein, wenn nicht, ja, wenn nicht die Sonne schiene. Gott sei Dank scheint die dieser Tage nur noch selten und kurz. Gott sei Dank geht sie bald unter. Ein Vater kommt mir mit seinem kleinen Sohn entgegen – sie gehen in Richtung der untergehenden Sonne, und ich höre den Mann sagen: „Lass uns dahin gehen, wo die liebe Sonne scheint!“ – „Die liebe Sonne“: Pphh … – bitter lache ich auf. „Die liebe Sonne“: Fast meine ich, ich muss mich verhört haben – aber nein: „Lass uns dahin gehen, wo die liebe Sonne scheint“, hat er gesagt. Ohne den leisesten Anflug von Ironie. Im völligen Ernst.
Ich glaube, ich spinne! Ich möchte das Kind beiseite nehmen und sagen: „Das ist nicht die liebe Sonne! Die Sonne ist nicht lieb! Du sollst hier unter Ausnutzung deiner mangelnden Lebenserfahrung aufs Übelste getäuscht werden. Ich will jetzt nicht so weit gehen, deinen Vater einen hinterlistigen Verbrecher zu nennen – nein, so weit würde ich nicht gehen. Aber ein gemeingefährlicher Idiot ist er auf jeden Fall. Ich kann für dich nur hoffen, dass du so wenig wie möglich von seinen schadhaften Genen mitbekommen hast, von seinem debilen Erbmaterial, von diesem grotesk verhunzten Spermmüll. Die Sonne ist nicht lieb! Sei froh, dass die jetzt kaum noch scheint. Die Sonne ist nämlich eine rechte Sau: Sie ist verantwortlich für die drei H’s – Hitze, Hautkrebs, Hungersnot. Sie sengt und brennt, bringt Dürre und Verderben. Sie ist schuld am Tod von hunderten kleinen Krabben und Fischchen, die ich, als ich so klein war wie du, mit dem Käscher gefangen und in einem blauen Plastikeimerchen aufgehoben habe. Den Eimer habe ich über Mittag am Ostseestrand stehen lassen und hinterher waren alle tot – die böse Sonne hat sie getötet. Am nächsten Tag wieder. Und überhaupt jeden Tag. Und Hannelore Kohl hat sie auch getötet. Sie ist also, genau genommen, verantwortlich für die vier H’s, die Sonne, die alte Fotze. Ich weiß nicht, warum dein Vater so dumm ist …“
Das alles möchte ich dem Kind sagen, aber es ist schon weitergegangen mit seinem Vater und schmort unter den Strahlen der untergehenden Novembersonne. ULI HANNEMANN
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