: Den die Zeit verjüngt
von BETTINA GAUS
Lübke? Liebe Neger. Herzog? Der mit dem Ruck. Heinemann? Liebte seine Frau, nicht den Staat. Carstens? Wanderte und war Mitglied der NSDAP. Heuss? Nun siegt mal schön. Weizsäcker? Das Kriegsende – eine Befreiung. Scheel? Saß hoch auf dem gelben Wagen und war mit Mildred verheiratet. Johannes Rau? Abwarten. Noch hat der amtierende Bundespräsident die Rede nicht gehalten, den Satz nicht gesagt, die Handlung nicht begangen, mit der er später ins kollektive Gedächtnis der Bevölkerung eingegraben sein wird.
Das ist erstaunlich bei einem Politiker, der immerhin zu den ganz wenigen gehört, die es zu einem bei Freund und Feind gleichermaßen gebräuchlichen Spitznamen gebracht haben. Aber irgendwo auf dem Weg ins Schloss Bellevue hat sich „Bruder Johannes“ verabschiedet – und noch steht nicht fest, wer an seine Stelle getreten ist. Das kollektive Gedächtnis ist nicht immer freundlich und auch nicht notwendigerweise gerecht. Aber doch wenigstens stets prägnant. Warum tut sich die Öffentlichkeit so schwer damit, ein Etikett zu finden, das sich Johannes Rau aufkleben lässt?
Das Staatsoberhaupt bewegt sich unauffällig durch die Republik. „Blaulicht liebt er ja überhaupt nicht,“ sagt der Chauffeur des sächsischen Innenministeriums, der Rau bereits häufiger gefahren hat, und dessen Fahrzeug auch an diesem Nachmittag zu der Kolonne des Präsidenten gehört. „Lieber steht er im Stau.“ Eine Mischung aus Anerkennung und Verzweiflung liegt im Ton des Mannes. Nachmittags um vier in Leipzig: da wartet man schon mal ein paar Phasen lang vor einer Ampel. Und der Terminplan ist eng. Aber alle Verabredungen werden pünktlich eingehalten. Verblüffend. Offenbar können sogar wichtige Leute ihre Planung so gestalten, dass sie den Verkehrsfluss berücksichtigt. Wenn sie nur wollen.
Rau will. Es gibt nicht sehr viele Politiker, die das wünschen, und noch viel weniger, bei denen ein solches Verhalten nicht wirkt wie Effekthascherei. Bei einem Truppenbesuch im Kosovo fordert Rau die ihm zu Ehren angetretenen Bundeswehrsoldaten auf: „Stehen Sie bequem!“ Ein Offizier flüstert ihm etwas zu. „Ach, stehen schon … das ist bequem? Prima.“ So eine Szene kann furchtbar peinlich sein: nämlich dann, wenn der Eindruck unabweisbar ist, dass der Satz vor allem für die Medien gesagt wurde. Sie kann aber auch anrührend sein. Wenn man spürt, dass das Gefühl der Peinlichkeit bei demjenigen entsteht, der geredet hat. Johannes Rau wirkt befangen und scheint sich in seiner Haut gerade nicht besonders wohl zu fühlen. Er ist Zivilist. Unheilbar.
Bei seiner unmittelbaren Umgebung ruft ein derartiges Verhalten offenbar eigentümliche Beschützerinstinkte hervor. Es gehört zu den Amtspflichten der engsten Mitarbeiter von Politikern, ihren Vorgesetzten gegenüber Loyalität zu bekunden. Irgendwann kommt jedoch fast unweigerlich der Augenblick, in dem die Untergebenen aus ihren Herzen keine Mördergruben mehr machen wollen. „So ist er halt.“ – „Damit kann sie eben nicht umgehen.“ Üblicherweise muss man sich nur lange genug im Umfeld von jemandem aufhalten, um so etwas zu hören.
Die Mitarbeiter von Johannes Rau sagen derlei nicht. Niemals. Stattdessen werden sie nicht müde, auf kleine, funkelnde Diamanten in der Krone ihres Chefs hinzuweisen. Es wäre ja möglich, dass diese übersehen werden. „Hätten Sie noch gewusst, dass der aus Glauchau ist?“, flüstert einer, als Rau einem flüchtigen Gesprächspartner gegenüber dessen Herkunftsort erwähnt. „Wenn er sich dazu präzise äußerte, brächte er andere Leute in Schwierigkeiten“, interpretiert ein anderer eine etwas ausweichende Antwort des Präsidenten.
Johannes Rau hat es schon immer verstanden, Menschen für sich einzunehmen. Nicht in der Masse, sondern in der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Gegenüber. Er sucht den Kontakt, oft auch mit Unbekannten, die sich an ihn wenden: „Manchmal denke ich, das kann doch wohl nicht wahr sein. Da muss ich mal anrufen – und dann ruf ich auch an.“ Johannes Rau ist am Telefon. Wer, bitte? „Rau. Sie hatten mir doch einen Brief geschrieben.“ Bei derlei Anekdoten kichert der Bundespräsident in sich hinein. Natürlich weiß er um die Wirkung derartiger Anrufe. Und selbstverständlich widersteht auch er der Versuchung nicht, die eigenen Talente möglichst wirkungsvoll in Szene zu setzen. Manchmal übertreibt er.
Die etwas steife Atmosphäre bei der Begegnung mit Vertretern einer Behinderteninitiative in Leipzig lockert er mit einem Witz auf. Der kommt gut. Also erzählt er gleich noch einen zweiten. Das ist einer zu viel. Manchen Gesichtern ist anzusehen, dass die Leute nicht gekommen sind, um Scherze zu hören. Sie wissen: Die Zeit ist knapp bemessen. Der Präsident hingegen wirkt so, als habe er den Terminplan vergessen. Zeit? Hat er endlos. Oder zumindest gelingt es ihm, diesen Eindruck zu erwecken. Die Uhr scheint ein bisschen langsamer zu laufen, wenn man mit ihm unterwegs ist. Wird er deshalb von denjenigen, denen er zu wenig glamourös ist, gerne als bedächtiger Langweiler bezeichnet?
Der Inhalt seiner Reden und viele seiner Auftritte rechtfertigen dieses Urteil nicht. Als erstes deutsches Staatsoberhaupt hat Rau vor dem israelischen Parlament gesprochen. Beim Thema Gentechnologie hat er dem Bundeskanzler, den wenig Bedenken zu quälen scheinen, offen widersprochen. Im Streit um den Internationalen Gerichtshof übte er unmissverständliche Kritik an den USA. Die Politik hat er aufgefordert, Instrumente gegen die weltweite Finanzspekulation zu entwickeln, und er bescheinigte den Globalisierungskritikern, die richtigen Fragen zu stellen.
Seine Unterschrift unter das rot-grüne Zuwanderungsgesetz, für das die Zustimmung im Bundesrat unter umstrittenen Umständen zustande gekommen war, begleitete er mit scharfen Worten. Sie machten sehr deutlich, was Rau von der Art und Weise hält, in der die Parteien gelegentlich mit den demokratischen Institutionen des Landes umgehen: nichts. Wenn ein anderer all das gesagt und getan hätte – er würde wohl mindestens als Querdenker bezeichnet, vermutlich sogar als streitbarer Provokateur. Von Johannes Rau aber lässt sich die Öffentlichkeit nicht provozieren.
Ohne Wirkung bleiben die Äußerungen des Präsidenten dennoch nicht. Wer sich für ein bestimmtes Thema interessiert, kann es als ermutigend empfinden, wenn ausgerechnet das Staatsoberhaupt sich weit vom gefälligen Mainstream der öffentlichen Meinung zu entfernen bereit ist. Aber derartige Wirkungen sind indirekt – sie zielen vor allem auf Teilöffentlichkeiten. Schlagzeilen werden damit nicht gemacht.
Richard von Weizsäcker hätte von einem bestimmten Zeitpunkt an allein mit der Bekanntgabe seiner Lieblingsfarbe für Aufsehen sorgen können. Roman Herzog ist es gelungen, aus einer intellektuell ziemlich schlichten Bemerkung ein geflügeltes Wort zu machen. Kränkt es Johannes Rau, dass ihm Vergleichbares trotz vieler Grundsatzreden bislang nicht gelungen ist? „Nein, überhaupt nicht. Ich habe das nie gekonnt und nie gewollt.“
Eine wenig überraschende Antwort. Wer gibt schon gerne persönliche Kränkungen und Eitelkeiten zu? Oder gar Ehrgeiz? Dann fügt Rau hinzu: Irgendwann werde sich der prägnante Satz „schon ergeben“. So ganz unwichtig ist ihm der Nachruhm eben doch nicht. Und an anderer Stelle des Gesprächs räumt er ein: „Ich bin sicher empfindlicher, als ich sein sollte.“
Nicht immer ist er zufrieden mit dem Bild, das von ihm gezeichnet wird. Wie zum Beispiel gelegentlich über seine Zeit als Ministerpräsident geschrieben werde: „Als ob ich 20 Jahre mit pastoralen Anekdötchen ein 18-Millionen-Volk regiert hätte! Denen, die so etwas schreiben, wünscht man einen Tag im Amt des Ministerpräsidenten.“ Schließlich sei er doch immer streitbar gewesen: „Ich habe nie danach gesucht: wo ist der zur Profilierung geeignete Konflikt? Aber ich habe immer versucht, eine klare Linie zu halten.“ Und: „Brücken bauen heißt ja nie: Verzicht auf Gräben.“
Die letzten Jahre können für Rau nicht immer einfach gewesen sein. 1994 galt der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen als populärster Bewerber für das Amt des Bundespräsidenten – und unterlag. Fünf Jahre später erreichte er sein Ziel, aber das Klima hatte sich gewandelt. Zu alt, schon wieder ein Mann, langweilig, verbraucht: Von herabsetzenden Bemerkungen war seine Kandidatur begleitet, fast niemand schien den SPD-Politiker im höchsten Staatsamt sehen zu wollen. Nicht einmal in den eigenen Reihen.
Es war die Blütezeit der New Economy. Unerschütterlich schien das Vertrauen in beständig steigende Aktienkurse und in die goldene Zukunft. Da sollte ausgerechnet ein alternder Politiker, an dem man sich schon 40 Jahre lang hatte satt sehen können, zum Präsidenten gewählt werden? Kein passendes Symbol für die neue, junge Zeit.
Inzwischen ist die Zeit nicht mehr ganz so neu und jung, die Zukunft bei weitem nicht mehr so rosig. Bei Großunternehmen wie Bertelsmann und der Telekom setzt man nicht mehr auf Jungdynamiker, sondern auf Manager mit möglichst viel Erfahrung. Und Johannes Rau bekommt allmählich eine immer bessere Presse. Bei gleich bleibendem Image. Wer von seiner Kandidatur nicht begeistert war, wird ihn vermutlich niemals für brillant halten. Aber das beruhigende Gefühl, dass an der Spitze des Staates jemand steht, dem die Zivilgesellschaft und die Demokratie am Herzen liegen, scheint im Marktwert zu steigen. Johannes Rau nimmt man ab, dass es für ihn Grenzen gibt – und dass es Dinge gibt, die er nicht täte. In einer Zeit, in der Politikern fast alles zugetraut wird, ist das eine ganze Menge.
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