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Ein Nationaler, im Zweifel links

von JÜRGEN BUSCHE

Er war der beste Journalist seiner Zeit. Aber weshalb er über Jahrzehnte hinweg Millionen Leser fesseln konnte, weshalb sein Blatt, Der Spiegel, alles, was es bedeutete, von seinem Namen her bezog solange er lebte, um das zu erklären, muss man hinzufügen, dass er ein großer Patriot war. Rudolf Augstein war ein Deutscher, dem man bessere Zeiten Deutschlands gewünscht hätte als die, in die er hineingeboren wurde. Aber als er unabhängig tun konnte, was zu tun er für richtig hielt, hat er für das vielfach zerstörte Land heilsam gewirkt. Und er hat früh erfahren dürfen, dass es ihm gedankt wurde – gerade von der Jugend dieses Landes. Die Spiegel-Affäre, die für ihn mehrere Monate Untersuchungshaft bedeutete, ist eines der wichtigsten Daten, nach denen man den Beginn der Studentenbewegung in der alten Bundesrepublik und damit eine der tiefgreifendsten Veränderungen der Deutschen in ihrer Geschichte einzuordnen hat. Vor allem junge Menschen gingen auf die Straße und demonstrierten für das Prinzip Pressefreiheit und gegen die juristisch und polizeilich daherkommende Handlungsautorität des Staates.

Der aufmerksamste Kritiker

Die Bewunderung, die in der Öffentlichkeit Augstein entgegengebracht wurde, war stets verbunden mit der Anerkennung der Tatsache, dass ohne ihn und sein „Hamburger Nachrichtenmagazin“ der Weg zum demokratischen und zivilen Staat nicht vorgestellt werden kann. Augstein gehört zu den Gründungsvätern der Bundesrepublik Deutschland by doing. Und er gehört zu denen, die nie vergaßen, dass es ihnen dabei um Deutschland ging.

Der junge Journalist, der, als Leutnant aus dem Krieg heimgekehrt, im Januar 1947 als Herausgeber und Chefredakteur mit dem Spiegel auf den unsicheren Markt kam, hatte da seine ersten Missstimmungen mit den ansonsten hilfreichen britischen Presseoffizieren schon hinter sich. Einer von ihnen, Michael Thomas, blieb sein Freund in Hamburg, bis er starb. Das professionelle Ziel des 23 Jahre alten Herausgebers war es, ein Heft nach dem Vorbild der amerikanischen Magazine wie Time zu machen. Das gelang immerhin gut genug, um dem publizistischen Ehrgeiz des Chefredakteurs ein beachtetes Forum zu bieten. Als die Bundesregierung in Bonn ihre ersten Schritte machte, hatte sie in dem bald von Hannover nach Hamburg gewechselten Blatt ihren aufmerksamsten Kritiker. Augstein lehnte die Politik des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer ab, weil er darin das Verantwortungsbewusstsein für ganz Deutschland vermisste. Schritte, die im Sinne der CDU die Einbindung der jungen Republik in die freie Staatengemeinschaft des Westens befördern sollten, verurteilte er mit Formulierungen wie jener, damit werde Deutschland den Krieg vollständig verlieren.

Politisch orientierte sich Augstein auf den rechten Flügel der nordrhein-westfälischen FDP, von dort aus wurde 1972 auch sein kurzer Ausflug in die Politik organisiert: Der Spiegel-Chef kandidierte für den Deutschen Bundestag, und das ausgerechnet in Paderborn, wo man die Liberalen wenig und die Nationalliberalen überhaupt nicht liebte. Augstein kam über die Landesliste ins Parlament, legte sein Mandat aber schon drei Monate später nieder. Aus Frustration?

Augstein, der vom Spiegel gern sagte, er sei „im Zweifel links“, bestätigte dieses Bekenntnis mit der Konsequenz, mit der er von dem demokratischen Staat erwartete, dass der es mit der Demokratie ernst meine. Das war der zweite Punkt, über den er zum schärfsten Gegner Adenauers und seines Regierungsstils wurde. Der autoritäre Muff der Kanzlerdemokratie war ihm ein Gräuel, in den Ambitionen des bayerischen CSU-Politikers Franz-Josef Strauß aber sah er eine Gefahr für das Land. Die Intensität zumal in dieser Gegnerschaft ließ die Kritikwut als persönlich motiviert erscheinen, was sie nicht war. Persönlich schätzte Augstein die Intelligenz und die Kraftnatur des Bayern. Umgekehrt lenkte die Gereiztheit etlicher Unionspolitiker viele Beobachter von der Tatsache ab, dass der Spiegel dann, wenn es geboten war, auch Sozialdemokraten heftig attackierte. Zu den großen Leistungen des Enthüllungsjournalismus, die der aufgrund von Augsteins journalistischer Haltung mit unendlich viel Geld ausgestatteten Spiegel-Redaktion zu verdanken sind, gehört nicht nur die Hartnäckigkeit in der „Flick-Parteispendenaffäre“ sondern auch die Aufdeckung der Missstände bei der gewerkschaftseigenen Wohnungsbaugesellschaft „Neue Heimat“.

Die Hälfte verschenkte er

Dass „im Zweifel links“ auch ganz praktische Folgen für ihn selbst haben konnte, bewies Augstein, als er 1973 die Hälfte der Anteile des Spiegel-Verlages den Mitarbeitern des Unternehmens überschrieb. Zwei Jahre zuvor hatte er von einem anderen Anteilseigner dessen 25 Prozent für 42 Millionen Mark zurückgekauft. Mit Voltaire hatte Augstein mithin nicht nur messerscharfe Intelligenz und grenzenlose Streitlust gemein, sondern auch ein hohes Maß an Geschäftstüchtigkeit. Allein schon als Unternehmensgründer wäre der Sohn eines Fotokaufmanns aus Hannover ein Musterexemplar aus der Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik. Die publizistische und finanzielle Unabhängigkeit des Spiegels über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg ist ein gar nicht kleines Wunder in der Pressegeschichte dieser Jahrzehnte.

Vielleicht ist auch kein Blatt sonst so vergleichsweise streng geführt worden wie der Spiegel – mit welchen Mitteln Augstein das auch immer angestellt haben mag. Irgendwann wird die schiere Bewunderung für den Gründungsheros das Ihre getan haben. Immerhin gab es spät in seinem Leben dann doch noch den Augenblick, in dem er keinen Zweifel daran zuließ, dass „links“ hier falsch war. Als sich Ende der Achtzigerjahre die Möglichkeit einer Wiedervereinigung Deutschlands am Horizont abzeichnete, feuerte er seinen Chefredakteur, der in einem Kommentar bekundet hatte, er wolle „nicht wiedervereinigt werden“. Augstein, der Historiker, der ein viel gelesenes Buch über Friedrich den Großen geschrieben hat, wollte es sich nicht nehmen lassen, sein Lebenswerk auch und gerade unter Ansehung seiner frühen politischen Ziele abzurunden. War der Spiegel einst angetreten, nach dem Krieg politisch für die Einheit Deutschlands zu streiten, so durfte er jetzt nicht die Einheit ablehnen, da sie in greifbare Nähe gerückt war. Der Patriot, der zuletzt der Freiheit seines Landes vor allem durch die Sicherung der Freiheit seiner Bürger im Inneren gedient hatte, war auch durch den Begriff der Nation in die Pflicht zu nehmen, deren Einheit den Generationen vor ihm ein hoher Wert gewesen war. Augstein gab gelegentlich an, sich gern als „Zyniker“ bezeichnen zu lassen. Vielleicht wissen die Mitarbeiter im Spiegel, was er damit meinte, oder was, als unter diesem Begriff zu ertragen, er anderen zumutete. In dem, was der Historiker und Journalist in mehr als 55 Jahren geschrieben und veröffentlicht hat, sucht man eine Bestätigung für diese Bezeichnung, wenn man sie konventionell versteht, vergebens. Der Augstein der Fünfzigerjahre ist ein scharfzüngiger, aber auch bis zur Erbitterung kämpfender Nationalliberaler, der politische Freundschaften pflegte, die bei Zynikern selten vorkommen. Der Augstein der linksliberalen Jahrzehnte ließ ein Blatt erscheinen, dessen Vorzüge Woche für Woche mit einer Zuverlässigkeit hervortraten, die bei der Konkurrenz auch dann mit Neid gesehen wurde, wenn man den Kurs der Hamburger für falsch hielt. Der Augstein seit der Wiedervereinigung, auch der schon von der Krankheit gezeichnete Mann, hielt an seinen alten Abneigungen fest, die schwächere Charaktere – oder Zyniker – längst aufgegeben hätten. In seiner Abneigung gegen Ziele und Methoden der amerikanischen Politik, die deutsch-national zu jeder seiner Lebensphasen passte, war er ungebrochen.

Bismarck, Stalin und Hitler

Am beeindruckendsten aber erscheint Augstein in seiner lebenslangen Liebe zu den Prunkstücken der Hochkultur. Hier hatte einmal das humanistische Gymnasium, dessen Absolvent der wohl doch empfindsame Jüngling war, ganze Arbeit geleistet. Augstein liebte die Philosophie und ihre großen Gestalten. Er liebte das Theater und vermochte sich ganz unzynisch über die Zerstörung eines Schauspiels auf der Bühne zu ärgern. Er liebte die große Szene mit bedeutenden Männern seiner Zeit und war glücklich über sein letztes Gespräch mit Konrad Adenauer. Als Historiker hielt er zäh an seinen Themen fest und erlaubte sich nicht die bequeme Geste mondäner Langeweile. Bismarck, Stalin und Hitler waren für ihn Lebensthemen, an denen er sich mit Fleiß und steter Neugier abarbeitete.

Augstein nahm ernst, was er zu tun sich aufgab.

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