: Im Rücken der Engel
Der St.-Hedwigs- und Französische-Domgemeinde-Friedhof war Grenzgebiet.Zwei Engel symbolisierten den Eingang zum Totenreich und Niemandsland
von THOMAS MARTIN
Friedhöfe sind kein ungefährliches Gelände. Wen fasst nicht die Wehmut an oder die Sehnsucht oder wenigstens ein umflorter Gedanke. Über die Friedhöfe geht die Menge, außer im Trauergeleit, nicht. Hier sind die Einzelnen zu treffen, die, wenn sie nicht Trauerarbeit verrichten, sich durch die Grabreihen wie durch Museen bewegen. Namen, Daten, Zahlen – man rechnet sich zurück in der Zeit, vielleicht vor, wie viel man noch hat, man sucht nach Bekanntem, nach Namen, die sich mit Bildung oder Einbildung verbinden. Man fühlt sich den Toten unter einem überlegen, bloß weil man noch lebt. Dass man früher oder später auch dazugehören wird, fällt nicht ins Gewicht, bis einen die Frage überfällt: Wo wirst du eigentlich begraben sein? Wo wird dein Name stehen, und welche Zahlen stehen drunter? Schon geht aller Frohsinn flöten, man fühlt sich allein, neutralisiert, auf Niemandsland ein Niemand.
Für derart lässliche Gedankenspiele ist der Doppelfriedhof der St. Hedwigs- und Französischen Domgemeinde vor allen anderen geeignet, besonders der Eingang von der Liesenstraße her. Man kommt vom Wedding durch das Tor und steht zwischen den Engeln in Mitte. Zwar ist das heute alles eins, aber lange Zeit war es das nicht. Lange Zeit konnte hier überhaupt niemand durchgehen, es sei denn, er war Grenzpolizist. Nach Mauerfall und Bezirksfusion ist das freies Feld, und die einzige noch zu durchschreitende Demarkationslinie ist die von zwei Engeln symbolisch gespannte. Zwar fehlen Attribute wie Flammenschwert und Heiligenschein, aber der Angelologie entsprechend müssen sie Erzengel sein, friedfertige Posten an der letzten Passage.
Wer hier eintritt, braucht seine Hoffnungen nicht hinter sich zu lassen. Er kann sie ablegen, vor die Füße der Engel für seinen Rundgang über Gräber, und dort wieder abholen. Die knieende Haltung der Geflügelten bedeutet Innehalten, eine Startposition vor dem Marsch in ein anderes Land. Trauer über, Ehrfurcht vor den Toten, stilles Gedenken. Der Gestus des Totengräbers ist dem nördlich aufgestellten eingeschrieben, wie er den müden Arm auf die Knie legt, den Kranz in der Linken, Werkzeug mehr als Grabbeigabe; der südliche hält die Hände überkreuz vor seiner Brust. In Ruhe und Nachdenken beide, die Köpfe tief geneigt. Wer ihnen in die Augen sehen will, wird sie verschlossen finden. Gebeugt von zeitlosem Dasein, dem Gepäck der übergroßen Schwingen, der Last des Erinnerns, sind sie zugleich Totenwache vor den Lebenden.
Überzeugend durch die Reinheit ihrer Sandsteinkörper, die kein Graffito verunziert. Leichter Moosbefall deutet auch ihre Endlichkeit an. Michael und Raphael, Seelenbegleiter und Schutzengel der Pilger, zwei deutsche Brüder in historisch kontaminiertem Terrain. Zwei deutsche Schwestern, wenn man sie, eindeutig weiblichen Gesichts, von geflochtenen Zöpfen bekrönt, aus der Nähe ansieht. Kann sein, dass ihren Schöpfer die Geschlechterfrage nicht bekümmert hat – auf jeden Fall bilden sie das einladendste Portal von allen Friedhöfen der Stadt.
Ein knappes Jahrhundert verbringen sie hier; vierzig Jahre davon haben sie nebeneinander gerückt im schrägen Winkel und im Schatten der Teilung verbracht. Während die Friedhofs- gleichzeitig Grenzmauer war, ragten die Flügelspitzen über den Asbestwulst der Betonpalisaden. Anderswo stecken sie Glasscherben hinein, die Kommunisten tun es mit Engelsflügeln. Allegorischer Anblick: Wer auf der Westseite stand, hätte annehmen können, dass jenseits zwei Greife lauern, geflügelte Schießhunde, Federzeichen eines mythisch belebten Geländes mit Fabelwesen und Streitwagen im Daueralarm.
„MAUER AUF FRIEDHOF!“ Die Schlagzeile der Berliner Morgenpost am 11. August 1967 hielt, was sie versprach: ein Schlag, eine Zeile. Nah genug am Absurden für heutige Leser, denen Friedhof und Mauer kein einander widersprechendes Begriffspaar sind. Das Foto zum Titel präsentiert mehr Tierpark als Friedhof, zwei Riesenvögel in die Voliere gepfercht, durch den Maschendraht als Engel aus Stein kaum zu erkennen: „Auf dem Friedhof der Domgemeinde St. Hedwig an der Liesenstraße (Weddinger Sektorengrenze) sind etwa 50 Zonensoldaten damit beschäftigt, eine ‚moderne Grenze‘ zu errichten. Sie bauen eine zweite Mauer aus vorgefertigten Betonteilen und planieren dahinter einen Todesstreifen. Die Toten waren bereits vor einiger Zeit umgebettet worden.“ Kein Wort über die beiden, die, zwar Sendboten des Himmels, nun sinnverkehrt für ihre himmlische Abkunft stehen mussten.
Dass ihr Standort das Paradies auf Erden war, konnte der abgebrühteste Atheist nicht glauben wollen. Für den Zeitraum der entzweigespaltenen Nation schienen sie zynisch die folgenden Alternativen zu bieten: „Wer hierbleibt, kommt in den Himmel“, beziehungsweise: „Wer abhaut, kommt in den Himmel.“ Wehren konnten sie sich nicht dagegen. Nicht gegen ihre Zeugenschaft der deutschen Frage, von der sie nichts verstanden, und kein Gericht wollte sie hören. Schief geparkt verfielen sie allmählich, nur mehr ein Fall für die Kunst.
„Hier ruht in Gott der akadem. Bildhauer Professor Josef Limburg. Limburg (1874–1955)“, der die zwei aus grauem Sandstein schuf, selbst sein Grab im Flügelschatten des rechten hat und dem es unter der Erde nicht besser ging. 1985 umgebettet, kam er erst mit der Aufstellung der restaurierten Engel vor wenigen Jahren zurück zum vorbestimmten Platz und ruht nun wieder im Goldenen Schnitt. Das Zwischenreich der staatlichen Teilung engte die Bestattungsmöglichkeiten ein. Punkt 5 der „Verfügung zum Schutze der Bürger der DDR vor Zwischenfällen auf Friedhöfen“ besagte: „Im Grenzsicherungsstreifen sind Bestattungen untersagt.“ Zum Besuch des Friedhofs berechtigten ausschließlich Grabkarten, Visa für das Zwiegespräch mit den Toten, das so um einiges erschwert wurde.
Die Cloppenburgs, die Patzenhofers, Adlons Erbbegräbnis, Begas der Ältere, die Fontanes, der DDR-Historiker Bergschicker, der ausgerechnet 1989 nebenan begraben wurde, das am 1. Mai 1945 vierjährig verstorbene Mädchen Margrit Tibus, die unter einem Ziegelstein liegt, und die anderen alle, die hier und auf dem benachbarten Friedhof der Französischen Domgemeinde liegen, können ein einsames Lied davon singen. Die ruhlos ruhige Totenstatt, zu deren Mauerstreifen die Engel wie Wappentiere gehören, ist das gut sortierte Trümmerfeld der Geschichte.
„Alles gegeben, selbst nur gelitten“, „Die Liebe höret nimmer auf“ – die schüttere Einfalt der Sprüche, die rostigen Girlanden, falscher Marmor, Kitschgranit, die eiserne, nicht mehr befahrbare Brücke, die den Grabplatz nach Norden begrenzt, das beiderseits bemalte Mauerstück, die kahlen Bäume vom Totenmonat November bis zum Ostermonat März/April – das alles gibt ein Bild von der Welt, wie sie aussehen könnte, wenn sie Pause macht, bevölkert statt mit Lebenden mit Engeln.
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