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„Israel ist Teil der Krise jüdischer Identität“

Rabbiner Ady E. Assabi war lange in der israelischen Friedens- und in der südafrikanischen Anti-Apartheid-Bewegung aktiv. Mit seinem neuen Amt in der Hauptstadt als Nachfolger von Rabbiner Rothschild schließt sich nun für ihn ein Kreis: „In Berlin ist das liberale Judentum zur Welt gekommen“, sagt er

Interview: PHILIPP GESSLER und ADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Ihr Vorgänger im Amt, der liberale Rabbiner Rothschild, wurde nach nur etwa zwei Jahren gefeuert wegen Streits mit dem Gemeindevorsitzenden. Was lässt Sie hoffen, dass Sie hier länger bleiben?

Rabbiner Assabi: Überhaupt nichts. Ich habe keine Garantie. Ich glaube aber, dass ich verstehe, was ich hier zu tun habe. Ich muss mich mit den Schwierigkeiten auseinandersetzen. Die Beziehungen zwischen Rabbiner und Gemeindevorsteher sind leider Gottes traditionell nicht besonders gut.

Auch wenn das traditionell so ist, warum ist das Verhältnis zwischen Gemeindevorsitz und Rabbiner in Berlin notorisch schlecht?

In der angelsächsischen Welt sind die jüdischen Gemeinden nicht aus der Not entstanden. Sie orientieren sich jeweils an einer Glaubensrichtung. Sie sind staatsfern und keine Einheitsgemeinden, wie wir sie hier in Deutschland haben. Hier sind die Orthodoxen, die Liberalen, die Reformierten alle unter einem Dach, das gibt größere Spannungen.

Ist Berlin unter den deutschen Einheitsgemeinden also ein besonders schlechtes Beispiel?

Die Einzige, in der es zum Guten oder Schlechten funktioniert, ist eigentlich Berlin.

Dennoch ist in der Berliner Gemeinde Streit an der Tagesordnung. Warum haben Sie Lust, sich das anzutun?

Ich stelle mir dieselbe Frage. Ich habe allerdings gelernt zu unterscheiden, was wesentlich und was unwesentlich ist. Berlin bedeutet für mich viel mehr, als die Struktur oder die Politik der jüdischen Gemeinde. Berlin ist die Stadt, in der das liberale Judentum zur Welt gekommen ist, in der sich die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums entwickelte. Auf den Straßen Berlins sind ein Leo Baeck, ein Franz Rosenzweig, ein Martin Buber gelaufen. Das ist eine Tradition, auf die ich mit Ehrfurcht zurückschaue. Mich reizt daher die Gesamtidee Berlin und wie sie sich zur jüdischen Geschichte stellt – und ihr Potenzial für die Zukunft. Keine andere deutsche Stadt verkörpert das so wie Berlin.

Die Gemeinde nehmen Sie in Kauf?

Die Politik einer Gemeinde ist eine kurzfristige Sache, man nimmt es einfach zu ernst. Vorstände und Rabbiner kommen und gehen. Was bleibt, ist die Identität und das Wesen. Es ist ja kein Zufall, das Leo Baeck ein Buch geschrieben hat mit dem Titel „Das Wesen des Judentums“. Mich interessiert, was das Judentum beitragen kann zu einem neuen Deutschland, in dem wir nicht mehr Gäste sein sollten, sondern ein Teil der Gemeinschaft. Wo die Schuld- und die Schamgefühle ersetzt werden durch eine Zusammenarbeit, damit etwas Neues entsteht. Nicht mehr nur Sühne für die Vergangenheit.

Was ist denn das genau, das Neue?

Ich würde es schlicht Normalisierung nennen. Die Situation in Deutschland ist seit dem Krieg nicht normal. Das Streben nach Normalisierung muss aber da sein. Das liberale Judentum hat Antworten auf ethische und moralische Fragen der Gesamtgesellschaft, nicht nur für uns Juden. Das war für mich immer wichtig. Deshalb hatte ich ja auch politische Auseinandersetzungen in Südafrika. Ich kämpfte dort gegen Apartheid, nicht weil es altruistisch ist, sondern weil das meiner Meinung nach die Rolle eines Juden nach dem Krieg ist.

Mit dem festen Ziel, Normalität herzustellen, sind ja schon Ignatz Bubis und Paul Spiegel angetreten. Der eine starb frustriert, der andere sah die Situation anfänglich auch etwas positiver.

Wir können uns doch nicht zurückziehen, nur weil es schwer ist. Es gibt ein Zitat im Buch der Väter: Es ist nicht deine Aufgabe, die Arbeit zu Ende zu führen. Aber du darfst nicht davor zurückschrecken. Du musst anfangen.

Was heißt das im Alltag?

Ein einfaches Beispiel. Der jüdische Zusammenschluss nach dem Krieg hieß Zentralrat der Juden in Deutschland, weil man von deutschen Juden nicht sprechen konnte oder wollte. Sollten wir nicht von deutschen Juden reden wie in jedem anderen Land auch, wo man von französischen, amerikanischen oder englischen Juden spricht? Die Kontakte der Gemeinde nach außen und von außen zur Gemeinde sind noch sehr begrenzt.

Und sehr gefangen in den Gefühlen von Schuld und Scham.

Wir müssen Wege finden, auf denen sich ein Dialog neu beginnen lässt. Das heißt, wo man über Zukunft spricht und nicht nur über das, was geschehen ist.

Heißt das, lasst die Vergangenheit ruhen?

Nein. Es heißt: Lebt nicht nur in der Vergangenheit!

Da sind Sie ja genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Wir haben gerade den Fall Möllemann, wo ein Politiker zum ersten Mal mit antisemitischer Hetzte Wahlkampf erprobte. Wir haben den Fall Jüdenstraße, wo der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin, Alexander Brenner, vor einigen Tagen öffentlich antisemitisch angepöbelt wurde. Es sieht doch eher so aus, als seien wir meilenweit entfernt von dem, wo Sie hinwollen.

Das mag wohl so sein. Das Judentum strebt seit jeher danach, die Welt und die Gemeinschaft zu verbessern. Wir betreiben keine Mission, aber wir haben eine Botschaft. Durch unsere Erfahrungen als Juden wollen wir bestimmte ethische und moralische Werte mit anderen teilen.

Welche Botschaft haben Sie denn im Jahr 2002 für einen Spandauer, der sich hinstellt und schreit: „Ihr Juden seid doch selber schuld!“?

Mitleid. In erster Linie. Nicht Ärger. Man muss über seinen eigenen Schmerz hinwegkommen und offen sein, um zu verstehen. Darüber einfach zu urteilen, ist für mich oberflächlich. Schnelle Lösungen habe ich nicht. Umso mehr will ich das, was unbekannt ist, bekannt macht. Desto eher gibt es eine Chance, dass man anders miteinander umgeht.

Ihr Vater kam aus dem brandenburgischen Ludwigslust. Er diente während des Krieges in der tschechischen Armee, weil er tschechische Verwandte hatte. Danach ging er nach Israel. Was hat ihn bewogen, nach dem Krieg nach Deutschland zurückzukehren?

Mein Vater dachte, dass er hier leben kann und will. Die Situation in Israel war in den Fünfzigerjahren sehr schwierig. Er dachte, es würde hier leichter sein, kehrte dann aber nach 15 Jahren wieder nach Israel zurück.

Sie haben einen Teil Ihrer Jugendjahre in Deutschland verbracht: War das nicht schrecklich in den Fünfzigerjahren – angesichts der Verdrängung der NS-Geschichte und den vielen gewendeten Nazis in höheren Positionen?

Ich war noch ein Kind und hatte wenig Einsicht. Aber es fiel mir schwer hier zu sein, deshalb bin ich nach einem halben Jahr zurück nach Israel. Mit 14 Jahren. Ich habe lieber in einem Internat in Israel gelebt als mit meinen Eltern in Deutschland. Es hat viele Jahre gedauert, bis ich meinen Eltern vergeben konnte, dass sie diesen Schritt getan haben.

Sie waren wütend auf Ihre Eltern?

Ich dachte, dass sie einen Wert aufgeben: ein Israeli sein, in Israel leben.

Konnten Sie das verzeihen?

Ich habe heute viel Verständnis für meine Eltern und sehe es jetzt anders. Für meine selige Mutter war es besonders schwierig, denn sie war in Israel geboren. Mein Vater hat in der Synagoge an der Rykestraße seine Bar „Mizwa“ gehabt. Mein Großvater liegt in Weißensee begraben. Mein Vater war in einem Flüchtlingsschiff, das nach Israel sollte. Es durfte aber nicht anlegen, so dass er ins Meer sprang und nach Israel schwamm. Er hatte nichts als eine Unterhose, als er ankam. Seine Mutter und seine Schwester, die im Prenzlauer Berg lebten, wurden in Auschwitz ermordet.

Wie kamen Sie dazu, Rabbiner zu werden?

Hier in der Fasanenstraße erhielt ich eine Einladung, nach England zu kommen, um dort das liberale Judentum und die Jugendarbeit kennen zu lernen. Ich war am Leo-Baeck-College. Ich werde es nie vergessen: Da waren drei alte Herren in einer typisch großen englischen Bibliothek mit Büchern bis zur Decke. Sie sagten, ihr Wunsch sei es, das liberale Judentum in Deutschland nach dem Krieg jetzt erst recht wieder aufzubauen – als Antwort auf Hitlers Traum, Deutschland judenrein zu machen. Ich habe mich zuvor mit der Frage, Rabbiner zu werden, nie beschäftigt.

Warum kamen Sie als Rabbiner nach Jahren im Ausland nach Deutschland zurück, das in Ihrem Leben immer eine schwierige Rolle gespielt hat?

Es war eine schwierige Rolle. Aber als ich nun überlegte, ob ich hierher zurückkommen soll, schien es mir, als ob sich damit ein Kreis schließen würde. Ich sehe sogar etwas Mystisches in der Berufung auf diese Aufgabe hier. Das ist kein Zufall.

Fühlen Sie sich auch als Deutscher?

Ich hab eine Wandlung durchgemacht. Meine israelische Identität war so stark, dass ich für nichts anderes Platz hatte. Meine Erfahrung in Europa hat das etwas begrenzt. Meine weitere Erfahrung in Afrika und meine starke Involvierung dort hat mir noch eine weitere Identität gegeben. Ich bin ziemlich universell. Ich habe die israelische und die deutsche Staatsbürgerschaft. Meine Identität ist nicht auf einem Staatswesen aufgebaut.

Sind Sie ein jüdischer Weltbürger?

Jüdischer Weltbürger ist gut.

Liegt Ihr Abstand zu einer Identität durch einen Staat auch darin, dass Ihr Engagement für die Friedensbewegung in Israel offenbar angesichts der heutigen Lage keinen Erfolg hatte?

Enttäuschung gibt es bestimmt. Das, was wir heute im Nahen Osten sehen, hätte nicht sein sollen. Sämtliche Nationalgefühle sind gefährlich für die Menschheit. Obwohl ich verstehe, dass der Staat Israel eine besondere Rolle spielt in der Frage der Identität der Juden, die außerhalb Israels leben. Es gibt weltweit viele Juden, die ihre Gesamtidentität auf Israel ausbauen. Das ist ein Teil der Krise der jüdischen Identität in der Nachkriegszeit.

Sie waren in Südafrika und engagiert in der Anti-Apartheid-Bewegung. In Israel, jetzt in Berlin: Konfliktträchtige Situationen scheinen Sie zu reizen – aber können Sie auch Streit schlichten?

Ich habe in den vergangenen Jahren gelernt, sich selbst nicht so ernst zu nehmen. Und das ist keine falsche Bescheidenheit. Wir glauben, dass wir viel mehr tun können, als was wir eigentlich erreichen können. Was von uns verlangt wird, ist aufrichtig zu uns selbst zu sein. Und das ist wahrscheinlich das Schwierigste. Es gibt eine wunderbare Geschichte vom Rabbiner Zusia, der im Sterben liegt. Seine Studenten beten Psalmen, da fragt einer: „Zusia, bald wirst du deinen Herrn treffen. Dann wird er dich fragen, ob du so wie Abraham oder Moses oder Salomon warst – was sagst du dann?“ Da sagt der Rabbiner mit seinem letzten Hauch: „Viel habe ich euch nicht beigebracht! Der Herr wird mir nur eine Frage stellen, vor der ich mehr Angst habe als vor allen anderen: ‚Zusia, warst du Zusia?‘ Und was soll ich da sagen?“

Wird diese Einstellung Ihre Arbeit hier erleichtern?

Ich habe keine Ahnung, was es leicht oder schwer machen wird, aber es interessiert mich auch nicht besonders. Ich komme her, um eine bestimmte Botschaft zu überbringen, die der Gemeinde, wie ich hoffe, helfen wird. Ich will nichts zu rechten oder linken Parteien sagen – das interessiert mich nicht. Ich will meine Arbeit als Rabbiner hier machen. Ich will Individuen, ob Juden oder Nichtjuden, dort berühren, wo sie berührt werden wollen.

Macht es Ihnen Kopfzerbrechen, dass die Berliner, die ja von überall herkommen, eher areligiös sind? Berlin ist eine Stadt, die kaum noch einen Bezug zum Glauben hat. Es gibt das Schlagwort vom „gottlosen Berlin“.

Nein, im Gegenteil. Ich glaube, wir müssen unsere Gottvorstellung redefinieren. Wenn Sie gottlos sagen, so höre ich etwas ganz anderes. Dann hat das nichts mit Gott zu tun, sondern mit der Kirche, der Synagoge oder Moschee. Die Leute dulden nicht mehr die organisierte Religion, die sie in den Hals gestopft bekommen. Diese Gottvorstellung kann einen entweder ultrareligiös oder gottlos machen. Meine Beziehung zu Gott ist auf einer ganz persönlichen, spirituellen Ebene und hat mit der Lehre der organisierten Religion sehr wenig zu tun.

Gibt es für Sie einen Ort in Berlin, der eine spirituelle Ausstrahlung hat?

Noch nicht.

Auch nicht die Synagoge in Rykestraße?

Dort schwingen die Stimmen aus der Vergangenheit aus den Wänden. Wenn man bedenkt, wer alles dort stand, gesprochen, gesungen, gebetet hat! Wie viele Tränen hier vergossen wurden! Was hier alles geschehen ist! Hundert Jahre jüdisches Leben in Berlin ist fast eine Weltgeschichte für mich.

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