Eine vermessene Ideologie

Landkarten sind nicht nur das Abbild der Nation – sie sorgen manchmal erst dafür, dass eine Nation entsteht. Über die Zusammenhänge von Macht und Wahrheit anhand der Kartografie haben die Schweizer Forscher David Gugerli und Daniel Speich ein wunderbares Buch verfasst

von CHRISTIAN SEMLER

Bei der ZDF-Wetterkarte erscheint Deutschland nicht als das schmale Handtuch, das es tatsächlich ist, sondern dick, fett und zufrieden in der europäischen Mitte liegend. Bei der französisch-deutschen Arte-Wetterkarte kommen wir nicht so günstig weg. Dafür sehen wir das französische Hexagon in seiner ganzen ausgedehnten geometrischen Großartigkeit. Seit es Nationalstaaten gibt, lädt das geografische Abbild der Nation zur Identifizierung ein. Die Karten senden Botschaften aus. So, wenn sich auf einer Landkarte der frühen Neuzeit die große Insel (England plus Schottland) bedrohlich in Richtung der kleinen (Irland) krümmt.

Landkarten sind ein Produkt der Vermessungskunst, ihre Qualität hängt von der Beachtung geometrischer, physikalischer und astronomischer Gesetzmäßigkeiten ab. Gleichzeitig drückt sich aber in ihrer neuzeitlichen Form auch ein Zug zur Vereinheitlichung aus, zur Festlegung dessen, was als Wahrheit über den Nationalstaat zu gelten hat. Dabei folgen Karten nicht notwendig der nationalstaatlichen Gründung. Sie können als mächtiges ideologisches Vehikel zu seiner Bildung dienen.

David Gugerli und Daniel Speich von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) sind in ihrem Werk „Topografien der Nation“ am Beispiel der Schweiz des 19. Jahrhunderts diesem Zusammenhang von Politik und kartografischer Ordnung nachgegangen. Sie haben den Prozess untersucht, der von den Dreißiger- bis zu den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts zur ersten großen Landkarte der Schweiz auf wissenschaftlicher Grundlage führte. Das Teamwork der beiden, zu dessen Umkreis auch Daniel Speichs „Papierwelten“ gehört, eine über Internet abrufbare Untersuchung über die Vermessungsgeschichte des Kantons Zürich, hat spannende Ergebnisse gezeitigt. Denn das Unternehmen Kartografierung der Schweiz wird nicht nur in einen äußerlichen Reflexionszusammenhang mit der politischen Geschichte der Eidgenossenschaft gebracht. Bis in die technischen Details der Vermessung und schließlichen Zeichnung der Karte sehen wir die Triebkräfte am Werk, die letztendlich – mit der bundesstaatlichen Verfassung von 1848 – zu der Schweiz führten, wie sie heute existiert.

Gugerlin und Speich verzichten bei ihrem Unternehmen erfeulicherweise auf monokausale Erklärungen, sie vermeiden die Argumentation vom Ergebnis her (post hoc ergo propter hoc). Die Arbeit am Kartenwerk führte, wie Gugerli in anderem Zusammenhang geschrieben hat, „in zunehmend bürokratisierten und mathematisierten Verfahren zu kollektiv verfügbaren, von kartografischen Aufschreibsystemen zuverlässig verwalteten Wissensbeständen für Systembildungsprozesse unterschiedlichster Art“. „Systembildung“ ist das Stichwort. Eine verunsicherte Gesellschaft sucht nach Orientierungspunkten. Ohne zu wissen, worauf das Ganze genau hinausläuft, setzt sie auf das Projekt einer genauen Landvermessung unter dem Titel Schweiz.

Im Zentrum der Arbeit vonGugerli und Speich steht die Figur des Generals Dufour, eines kartografisch gebildeten Offiziers, der das Projekt von den Anfängen bis zum glücklichen Ende leitete. In seiner Person laufen die Linien der Vermessung und der modernen Nationenbildung der Schweiz insofern zusammen, als er Kommandant der eidgenössischen Truppen im Sonderbundskrieg war, der das Tor zur Schweizer Bundesverfassung aufstieß.

Zwei Leistungen Dufours heben Gugerli und Speich hervor: Es gelang ihm erstens, das Projekt über die Jahre hinweg der zerbrechlichen, von unterschiedlichen Interessen geleiteten Mehrheit der kantonalen Politiker schmackhaft zu machen, die jedes Jahr, von Tagsatzung zu Tagsatzung, die Mittel bewilligen mussten. Dabei kam ihm zupass, dass die Schweizer Armee bis 1848 die einzige permanente Institution auf der Ebene der Eidgenossenschaft war. Die Kantone waren bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts souverän.

Noch wichtiger die zweite Errungenschaft Dufours. Er bestand auf Einheitlichkeit und überprüfbarer Genauigkeit der Vermessungsmethoden. Immer wieder aufs Neue überprüften seine Helfer die Arbeitsgeräte wie die Messungen. Dies betraf sowohl die Erkundung des Geländes, die Vorarbeiten für die Basislinie und deren Vermessung, die Festlegung der Triangulationspunkte und die trigonometrischen Messungen, die Nivellierung für die Höhenmessung, die Umrechnungen und schließlich den Anschluss an die Triangulation Frankreichs und der Lombardei. Nur diese penible, hohe Kosten verschlingende Arbeit an der die Eidgenossenschaft umfassenden Triangulation erster Ordnung machte es dann möglich, das ganze Land mit immer kleineren Dreiecken der Triangulation zweiter, dritter und schließlich mit der (für das Grundbuch wichtigen) Triangulation vierter Ordnung zu überziehen.

Im Ergebnis von Dufours Kartenwerk entstand ein geografisches Bild der Schweiz, das sich in seiner Genauigkeit, Abstraktheit und Allgemeinheit über das buntscheckige Bild der Eidgenosenschaft hinwegsetzte, die Einheit des Bundesstaates auf Kosten der Mannigfaltigkeit der Regionen und ihrer gänzlich unterschiedlichen geschichtlichen Traditionen betonte. An die Stelle des poetischen Selbstbilds des Alpenländers, der in die Majestät der Berge versunken ist, trat die Prosa des militärischen und ökonomischen Nutzens, auch wenn Dufours Karte in ihrer schließlichen, vielfach preisgekrönten Gestalt hinreichend Schattenschraffierungen, grüne Ebenen und ähnliche die Sinne erfreuende, konventionelle Elemente aufwies. Manche Kantonsbürger legten keinen Wert auf die Vermessung ihres Territoriums, sahen keinen Sinn in der metergenauen Bestimmung der Gletscher. In einigen Kantonen herrschte bis zu Dufours Karte Unklarheit über die genauen Kantonsgrenzen, was bis zu deren Festlegung niemanden gestört hatte. Aber im Ergebnis kam es zur Synthese: der Hirtenknabe, der Dufours Karte liest.

Gugerli und Speich sind auf der Reise in die Region, wo sich Geistesgeschichte und Naturwissenschaften begegnen. Ein im deutschen Sprachraum selten bereistes Gebiet. Die Autoren sind methodisch gewitzt, sind heimisch in Michel Foucaults Gedankenwelt, wo über den Zusammenhang von Macht und Wahrheit (in Gestalt der Landkarte) gehandelt wird. Für die der Landvermessung nicht kundigen Leser (auch der Rezensent zählte zu ihnen) wirft das Buch hingegen einige Verständnisprobleme auf, die aber mittels eines kleinen Trigonometrie-Wiederholungskurses zu bewältigen sind. Ohne Fleiß eben kein Preis, aber die Anstrengung lohnt sich.

David Gugerli und Daniel Speich: „Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert“, Zürich 2002, 264 S.