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Mitleid mit der Restlunge

Klasse Frau: schlagfertig, vorzügliche Vorleserin, uneitel. Die Schottin A. L. Kennedy las in Berlin – und die Berichterstatterin bald weiter in den Geschichten von Literaten, die sich der Selbstzerstörung mehr als ihren Texten verschrieben haben

von EVA BEHREND

Schöne Bescherung! Da wird man mit der Besprechung der Lesung eines 573 Seiten starken Buches beauftragt, das seit fast zwei Monaten gut sichtbar und angelesen nur bis Seite 45 in der eignen Wohnung lagert. Natürlich sagt man trotzdem zu. Wie formuliert A. L. Kennedy, Autorin dieser 573 Seiten, so treffend auf ihrer Website: „Journalism? – Dear, dear. Well, it pays about as well as prostitution might be expected to.“ Die 36-jährige Schottin wurde calvinistisch erzogen.

Mit ihrem vor kurzem auf Deutsch im Verlag Wagenbach erschienenen Roman „All you need“, in Ingo Herzkes Übersetzung „Alles was du brauchst“, traten endlich große, ausführliche Würdigungen von Kennedys bisherigem Werk in den Feuilletons auf den Plan. Titelstory in Literaturen, Aufmacher der FAZ-Buchmessenbeilage, Lob und Begeisterung, meist geknüpft an die Feststellung, dass Kennedys Schreiben radikal um existenzielle Themen kreise: Sex und Gewalt, Glaube und Tod (was manchem Kritiker Anlass zur impliziten Ermahnung gab, das letzte dieser beiden Pärchen käme in der zeitgenössischen deutschen Literatur zu kurz). Dazu Fotos, auf denen Kennedy streng, bleich und wie eine etwas skeptische Mona Lisa ausschaut.

Nun geht A. L. durch den überfüllten Zuschauerraum nach vorne, und fast hätte man sie in ihrem schwarz-gelben Jungsanorak übersehen. Auf dem Podium ist das unmöglich: die hohe, blasse Stirn, darunter das hübsche, fragile Gesicht, das Kennedy dauernd durch Stirnrunzeln, Kinnvorschieben, Lippenstülpen und Augenbrauenspiel durcheinander bringt. Und unglaublich lebendig macht. Sie fängt an zu lesen, unterbricht sich und schiebt gleich den ersten, lächelnden Kommentar ein. Schriftsteller Nathan, neben seiner Tochter Mary die männliche Hauptfigur von „All you need“, besitze nur noch einen Lungenflügel, „due to smoking“ – „I like my protagonists being disabled, that makes me feel more healthy.“ (Due to „On Bullfighting“, ihrem Essay über Stierkampf, weiß man, dass die Autorin unter einem Wirbelsäulenschaden leidet.) Tatsächlich erweisen sich die Auszüge des Romans, der laut Kennedy in Herzkes Übersetzung „much more polite“ klingt als im Original, als detailliertes, dunkel komisches Bohren in den physischen und seelischen Wunden einer Reihe von Literaten und Lektoren, die sich eher der sukzessiven Selbstzerstörung als ihren Texten verschrieben haben.

Nicht nur um Nathans Restlunge steht es im vorgetragenen Ausschnitt schlecht. Er ist außerdem schwer betrunken und in heftiges Hadern mit sich und seiner vor sieben Jahren unglücklich abgebrochenen Ehe verstrickt. Kennedy schildert diesen Zustand im raschen Wechsel aus Nathans schonungslos obszöner innerer Perspektive und aus der Position der akribischen, Anteil nehmenden Beobachterin. Gerade ist er im Dunkeln über seinen gläsernen Couchtisch gestolpert und bewundert gequält die blutigen Schleifspuren, die er deshalb auf dem cremefarbenen Teppich hinterlassen hat. „In this position, I will leave him“, schließt Kennedy den Auszug.

Da ist schon klar: klasse Frau. Selbstbewusst, aber uneitel, schlagfertig, aber nicht auftrumpfend, eine vorzügliche Vorleserin außerdem, was womöglich mit ihrem Theatre-and-Drama-Studium an der Universität Warwick zusammenhängt. All die pointierten Zynismen, die A. L. Kennedy liest oder sagt, begleitet ein mimischer und gestischer Nebentext, meistens einfach (obwohl: ja schon auf zweiter Ebene!) ironisch distanzierend, manchmal fast clownesk, doch immer seltsam und grundsätzlich herzlich. Eine solche warme, menschenfreundliche Ironie war es auch, die den autobiografischen Selbstmordversuch zum Auftakt von „Stierkampf“ so lakonisch wie schelmisch scheitern ließ, oder „Gleißendes Glück“ („Original Bliss“), die schwierige Liebesgeschichte zwischen einem pornobesessenen Starpsychologen und einer verheirateten Katholikin, sowohl dem Kitsch als auch der eisigen Analyse entwand. Obwohl beides darin verborgen war und man sich danach, Mona Lisa inklusive, A. L. Kennedy auch als verhuschte Romantikerin oder kühles Selbstzerstörungsmonster hätte vorstellen können.

Im Dialog mit Ingo Herzke spricht Kennedy dann über ihre mit Leidenschaft vertretene schottische Identität, über die mythische Gralssuche, die „All you need“ motivisch durchzieht und als Metapher fürs Schreiben gelesen werden kann, über die Kraft der Sprache und den Antagonismus von Schreiben und Tod. Letzterer, findet die Autorin, ist etwas, das man nicht in blinder Hoffnung auf ein Happy-End mit Vitamintabletten und Gymnastik bekämpfen kann – und nicht sollte, weil er schließlich das Bewusstsein stärkt, gerade auch das schreibende. Auch, dass Kennedy ganz offensichtlich nicht zur „Love is just a four letter word“- sondern zur „All you need is love“-Fraktion gehört, nimmt man schließlich gerne mit nach Hause, wo Seite 46 ff. wartet.

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