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„Wir sind eine Zumutung“

Straffällig gewordenen Jugendlichen Beziehungen anbieten, Erfolge verschaffen und Halt geben – am liebsten ohne Zaun: Wolfgang Lerche, Leiter des Landesbetriebes Erziehung und Berufsbildung, über den Auftrag geschlossener Heime

„Das Heim soll ein Ruhepol in den oft zerrissenen Biografien sein“

INTERVIEW: KAIJA KUTTER

Welche Rolle spielt der Landesbetrieb Erziehung und Berufsbildung (LEB) bei der geschlossenen Unterbringung?

Wolfgang Lerche: Wir wurden mit der Umsetzung beauftragt, weil der LEB als kommunaler Jugendhilfeträger der Steuerung des Senats unterliegt.

Machen Sie das Konzept?

Die Grundzüge hat der Senat in seiner Drucksache vorgegeben. Wir setzen das praktisch und pädagogisch um und suchen die geeigneten Mitarbeiter. Auf 10 Stellenausschreibungen haben wir 130 Bewerbungen.

Laut dem Jesteburger Senatsbeschluss sollte der LEB aufgelöst werden. Ist das vom Tisch?

Der Senat hat einen Prüfauftrag zur Weiterentwicklung des LEB erteilt, der nicht abgeschlossen ist. Als Ergebnis könnten wir Aufgaben abgeben oder hinzu bekommen. Schon fest steht, dass wir zum 1. Januar den Kinder- und Jugendnotdienst integrieren.

Gab es im LEB Skrupel, das geschlossene Heim zu gründen? Der Senat hat den Landesbetrieb schon immer genutzt, um jugendpolitische Ziele durchzusetzen, dafür sind wir auch da. Nun gibt es in der Umsetzung von Aufträgen Neigungsgruppen und Pflichtkurse. Die geschlossene Unterbringung ist etwas, was auch bei uns für Diskussionen sorgt. Einige Mitarbeiter ziehen ihre Identität daraus, dass sie noch an deren Abschaffung mitgewirkt haben. Und es gibt in der Tat eine Reihe von Risiken, denen man begegnen muss.

Die wären?

Man weiß, dass Anstaltskulturen mit einer eigenen Hierarchie entstehen können, die Pädagogen nicht wahrnehmen. Ein weiteres Risiko ist, dass sich die Jugendlichen lediglich an Regeln anpassen, statt sich innerlich weiter zu entwickeln. Ein nicht unerhebliches Risiko ist auch, dass es Gewalt zwischen Erziehern und Jugendlichen geben kann.

Das klingt gravierend. Wie vermeiden Sie diese Risiken?

Ein Faktor um Risiken zu minimieren ist, dass man sie kennt und benennt. So beschränkt unser Phasenmodell die Freiheit vor allem in der Eingangsphase. Diese kann so dazu dienen, die Jugendlichen mit der Einrichtung, den Regeln und den Mitarbeitern vertraut zu machen. Bewähren müssen sie sich letztendlich außerhalb. Deshalb soll es bereits nach vier bis sechs Wochen eine Phase geben, in der sie hinausgehen und Besorgungen, Arztbesuche oder ähnliches machen. In unseren intensiv betreuten Wohngruppen (IBW) zur U-Haft-Vermeidung, die wir vor zwei Jahren eingeführt haben, gibt es einen ähnlichen Einstieg. Dort dürfen die Jugendlichen per richterlicher Auflage die Einrichtung vier Wochen nicht verlassen. Die Sorge, dass sich dadurch ein Krisenpotential aufschaukelt, hat sich nicht bewahrheitet, im Gegenteil, dies hat geholfen. Das andere, was wir tun: Wir suchen die besten Mitarbeiter. Sie brauchen ein umfassendes Wissen über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, sie müssen in der Lage sein, sie auszuhalten und ihnen Halt zu geben.

Wie geht es danach weiter?

Es gibt eine zweite Phase von fünf Monaten mit begrenztem Ausgang. Die Jugendlichen können zu bestimmten Zeiten für bestimmte Aktivitäten das Haus verlassen. Wenn sie gegen gravierende Regeln verstoßen, kann es passieren, dass sie wieder in Phase eins kommen. Danach beginnt eine dritte Phase, in der die Jugendlichen ihre sozialen Wurzeln in der Außenwelt festigen sollen. Wir gehen davon aus, dass sie mindestens ein Jahr bei uns sind und wir ein Ruhepol in ihrer Biografie sind. Es handelt sich um junge Menschen, deren Leben von Diskontinuität geprägt ist. Das geht im Kleinkindalter los und bezieht sich auch auf das Handeln der Jugendhilfe. Dieses ist die eigentliche die Chance der intensiv betreuten Unterbringung: ein Haltepunkt in diesen so zerrissenen Biografien zu sein.

Wie finden die, die sich zu Unrecht eingesperrt sehen, Gehör?

Es werden sich wohl alle Jugendlichen dort zu Unrecht eingewiesen fühlen.

Also nehmen Sie‘s nicht ernst.

Doch, doch. Wir sind einerseits eine Zumutung für Jugendlichen. Sie müssen etwas lernen, was sie bisher nicht gelernt haben: verbindliche Beziehungen auszuhalten. Wir wollen ihnen im schulischen Bereich Erfolge vermitteln, wo sie bisher immer nur Misserfolge hatten. Wir werden Jugendlichen, die desaströse Schulkarrieren hinter sich haben, in ein Feld leiten, wo sie die größten Kränkungen und Ängste erfahren haben. Ihre Biografie ist von Vertrauensmissbrauch und Beziehungsabbrüchen geprägt. Deshalb werden sie misstrauisch sein und sich diesem verbindlichen Beziehungsangebot widersetzen. Die Nähe der Beziehungen lässt alte Verletzungen aufleben. Es dauert seine Zeit, bis sie glauben, dass man sie aushält und wertschätzt. Andererseits werden sie Selbstvertrauen und Kompetenzen gewinnen.

Der Landesjugendhilfeaussschuß fordert eine unabhängige Kommission für Jugendliche, die raus wollen. Gibt es die?

Wir sind für alles offen, was Transparenz schafft. Aber das Gesetz hat hier schon eine Menge Schutz vorgesehen. Es entscheidet ja nicht die Behörde, wer da reinkommt, sondern der Sorgeberechtigte, das heißt die Eltern oder der Amtsvormund. Zusätzlich braucht es immer die Erlaubnis eines Richters.

Sind die Vormünder unabhängig genug? Es sollen beim Familien-Interventions-Team (FIT) Vormünder bereit gehalten werden.

Das Gesetz sagt, dass zunächst nach privaten Vormündern gesucht wird. Die Praxis zeigt nur, dass man die kaum findet. Deshalb hat die Amtsvormundschaft große Bedeutung. Man könnte dem LEB als durchführendem Träger ein wirtschaftliches Interesse unterstellen, die Einrichtung zu füllen. Deshalb wäre es fatal, wenn wir hier eigene Akquise betrieben. Aber das FIT ist nicht beim LEB angesiedelt ist, sondern beim Amt für Familie, Jugend und Sozialordnung. Sie unterschätzen den Berufsethos von Amtsvormündern. Die sind den Familienrichtern unterstellt, nicht der normalen Hierarchie.

Wann wird das Heim eröffnet?

Wir hoffen, dass wir Mitte Dezember mit zwölf Plätzen in der Feuerbergstraße anfangen.

In besagtem Atriumbau?

Ja. Wir sind darauf vorbereitet, in einem zweiten Schritt weitere Gebäudeteile einzubeziehen. Wobei wir einen Neubau forcieren. Je eher wir ein Grundstück finden, desto besser.

Ist das Atrium mit seinen kleinen Kammern denn geeignet?

Wir richten das Gebäude so her, dass die Jugendlichen sich wohl fühlen können. Die Zimmer sind klein, aber die Gesamtmöglichkeiten des Gebäudes mit über 500 Quadratmetern sind entscheidend.

Wo können die Jugendlichen sich bewegen? Nur im Hof?

Die Räumlichkeiten sind nicht so, dass man da Ballspielen kann. Es gibt einen Bewegungs- und Trainingsraum, in dem wir aber keinen Kiezsport anbieten, eher Selbsterfahrung und Selbstverteidigung. Die Jugendlichen müssen sich aber auch abreagieren können. Gute Erfahrungen haben wir mit Punching-Händen gemacht. Da hält der Betreuer dem Jugendlichen die Hände hin, an denen er sich ausboxen kann. In späteren Phasen wollen wir die Jugendlichen in Sportvereine integrieren.

Langfristig wollen Sie neu bauen. Stimmt es, dass Ihnen dabei Heime ohne Zaun wie in Süddeutschland vorschweben?

Wir haben uns die Heime in Rummelsberg und Gauting angeschaut und eine Architektur erlebt, die deeskalierend sein kann. Nach unserer Vorstellung brauchen wir keinen Zaun.

Auch Flüchtlingskinder sollen in die Heime. Nur wegen illegalen Aufenthaltes?

Weder der Senat noch die Behörde noch wir haben vor, diese Einrichtung zur Abschiebeanstalt zu machen. Es ist eine Einrichtung der Jugendhilfe, die einen Erziehungsauftrag hat. Der Familienrichter und die Vormünder werden darauf achten, dass sie nur zu diesem Zweck genutzt wird.

Laut Drucksache sollen Sie dort aber auf die Abschiebung vorbereiten.

Auch Jugendliche ohne legalen Aufenthalt können in eine Situation kommen, wo man ihnen aus erzieherischen Gründen helfen muss. Das ist eine besondere Herausforderung. Wenn ein Jugendlicher aus Hamburg kommt, ist soziale Integration ein Schlüssel zum Erfolg. Dieses ist für die jungen Flüchtlinge keine realistische Perspektive. Deshalb müssen wir dort andere pädagogische Zielsetzungen haben. Dies heißt, wie bei dem anderen auch, Legalbewährung, Schluss machen mit Straftaten. Und es gilt, traumatische Fluchterfahrungen und Ängste, die mit der Rückführung in die Heimat verbunden sind, aufzuarbeiten.

Wie jung sind die Kinder?

Dadurch, dass die Fälle der U-Haft-Vermeidung ausgeklammert sind, dafür sind die IBW zuständig, rechnen wir mit 12- bis 16-Jährigen.

Werden Jugendliche flüchten?

Ja. Aber nicht so spektakulär. Es wird vorkommen, dass Jugendliche in der offenen Phase von Ausgängen nicht zurückkommen. Wir werden sie dann wieder aufnehmen und weiter zuständig sein. Das ist oberstes Prinzip.

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