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Neue Doppelspitze in Ankara

Die Nummer zwei der AK-Partei, Abdullah Gül, wird neuer türkischer Regierungschef. Wohl auf Zeit, denn Parteichef Tayyip Erdogan könnte nach einem Jahr übernehmen. Vorerst ist Arbeitsteilung angesagt, und beide drücken mächtig aufs Tempo

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Ab jetzt wird Tag und Nacht gearbeitet“, kündigte der neue türkische Ministerpräsident Abdullah Gül nach seiner Nominierung am Samstag an, und sein Parteichef Tayyip Erdogan ergänzte: „Von nun an wird in der Türkei nichts mehr sein wie zuvor“. Am Samstagvormittag hatte Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer den stellvertretenden Vorsitzenden der AK-Partei, den 52-jährigen Abdullah Gül mit der Regierungsbildung beauftragt.

Noch während Gül im Präsidentenpalast weilte, präsentierte Parteichef Tayyip Erdogan der Öffentlichkeit die Prioritäten des Programms der neuen Regierung. Erdogan und Gül wollen die Menschenrechtsstandards deutlich verbessern, ein Sofortprogramm zur Armutsbekämpfung verabschieden und den türkischen EU-Beitritt vorantreiben. Brüssel hat Gül umgehend gratuliert und zugleich „mutige Reformen“ gefordert.

Gül wurde Ministerpräsident, weil Parteichef Erdogan aufgrund einer Vorstrafe selbst nicht für das Parlament kandidieren durfte und deshalb auch nicht zum Ministerpräsidenten gewählt werden kann. Obwohl Gül bereits vor seiner Nominierung bestritten hatte, dass der neue Ministerpräsident lediglich ein Statthalter Erdogans sein würde – „man kann keine Regierung per Fernbedienung steuern“ – kündigte er am Samstag an, er werde sich dafür einsetzen, die derzeitige „unnormale Situation zu normalisieren“. Die AK-Partei hat erklärt, dass sie in absehbarer Zeit durch eine Verfassungsänderung Erdogan ermöglichen will, das Amt des Ministerpräsidenten selbst zu übernehmen. Da der Partei nur vier Stimmen zur verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit fehlen und selbst Oppositionsführer Baykal signalisiert hat, man werde sich einer Änderung wohl nicht widersetzen, geht man davon aus, dass spätestens in einem Jahr Gül an Erdogan übergeben wird.

Bis dahin wird die Türkei von einer Doppelspitze geführt, die sofort aufs Tempo drückt. Während Gül sich um die Bildung der Regierung kümmert, startet Erdogan eine diplomatische Offensive durch die europäischen Hauptstädte. Am Samstag beriet er in Nordzypern den UN-Plan Kofi Annans, heute trifft er in Athen den griechischen Premier Kostas Simitis und am Abend in Madrid den spanischen Kollegen Aznar. Für Morgen ist ein Treffen mit Kanzler Schröder avisiert, danach stehen London und Brüssel auf der Reiseliste.

Bereits heute will Gül seine Kabinettsliste präsentieren, danach soll die Regierung im Parlament bestätigt werden. Obwohl Abdullah Gül ein Veteran der islamistischen Bewegung ist, gehört er heute eindeutig zum liberalen Flügel seiner Partei. Der in Istanbul und London promovierte Ökonom hat sich in den letzten 20 Jahren vom islamistischen Ideologen zum pragmatischen Konservativen gewandelt. Nach seinem Studium ging er zur „Islamischen Entwicklungsbank“ nach Saudi-Arabien. Anfang der 90er stieß er zu Erbakans islamistischer Wohlfahrtspartei und wurde Parlamentsabgeordneter. Als Erbakan 1996/97 für ein Jahr Premier wurde, war Gül sein Regierungssprecher und außenpolitischer Berater. In dieser Funktion unterstützte Gül auch Erbakans Hinwendung zur islamischen Welt. Erst nach dem Sturz Erbakans durch die Militärs 1997 setzte sich Gül deutlich für eine Abkehr vom politischen Islam ein und wurde zur tragenden Figur des Reformflügels in der islamischen Tugendpartei.

Mit Tayyip Erdogan gehörte er zu den Gründern der AK-Partei und ist heute tatsächlich der zweite starke Mann der Partei. Gül kommt aus einer traditionellen anatolischen Familie. Er hat drei Kinder, und seine Frau trägt Kopfttuch. Bei Staatsempfängen wird Frau Gül deshalb wohl zu Hause bleiben.

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