: Jeder Schüler ein kleiner Experte
Der Laborschule gelingt besonders gut, Schüler sehr unterschiedlicher Lernniveaus zu fördern. Das haben Max-Planck-Forscher nachgewiesen. Der Blick in die Unterrichtspraxis zeigt nun: Alle Schüler bekommen dieselbe Frage – aber die Zugänge, das Problem zu lösen, sind so verschieden wie die Kinder
aus Bielefeld KARL-HEINZ HEINEMANN
Die Laborschüler sind besser als bayerische Schüler. Beim Lesen gilt das und in Naturwissenschaften. Die schlechteren Ergebnisse in Mathe waren absehbar. Als die Laborschule vergangene Woche ihren Erfolg feierte, konnte es sich Klaus-Jürgen Tillmann nicht verkneifen, die Grafik zu zeigen, auf der die Bielefelder vor den Bayern rangieren.
Tillmann ist wissenschaftlicher Leiter der Laborschule. Als empirisch beschlagener Erziehungswissenschaftler weiß er natürlich: Der Vergleich zwischen Laborschule und Bayern ist unfair – denn die „Umgebungsvariablen“ der Kinder sehen an der Einrichtung der Uni Bielefeld natürlich ganz anders aus als bei bayerischen Durchschnittsschülern. Hier sind mehr Eltern Akademiker, sie haben mehr „kulturelles Kapital“ an ihre Kinder zu vererben als die Durchschnittsbevölkerung.
Die Max-Planck-Wissenschaftler, die den Laborschülern den Pisa-Test vorlegten, wollten freilich nur vergleichen, was vergleichbar ist. Daher haben sie für jeden Laborschüler einen Vergleichsschüler aus der Pisa-Stichprobe Nordrhein-Westfalens herausgesucht, das heißt Schüler mit vergleichbarer sozialer Herkunft. Selbst bei dieser statistischen Korrektur erreichen die Laborschüler noch ansehnliche Ergebnisse.
Das Max-Planck-Institut bescheinigt der Schule als besondere Stärke, dass sie im Umgang mit Heterogenität erstaunliche Ergebnisse erzielt. Schüler, die im neunten Schuljahr die Empfehlung bekommen, auf die gymnasiale Oberstufe zu gehen, erzielten leicht bessere Leistungen als die Vergleichsgruppe aus „richtigen“ Gymnasien. Die Mädchen an der Laborschule aber lesen ebenso gut wie die finnischen Schüler. Und, was noch erstaunlicher ist: Schüler, bei denen im neunten Schuljahr fraglich ist, ob sie überhaupt einen Hauptschulabschluss schaffen werden, erreichen dennoch durchweg beim Lesetest die Kompetenzstufe 2. Dazu muss man wissen, dass beim gesamtdeutschen Pisa-Test fast ein Viertel der Schüler unter Stufe 2 geblieben waren. An der Laborschule gibt es diese „funktionalen Analphabeten“ oder sehr schlechte Leser gar nicht.
Die Laborschule, die Hartmut von Hentig vor 28 Jahren gründete, kann wegen ihrer pädagogischen Konstruktion mit sozialer Heterogenität umgehen. In Bielefeld werden die Kinder bereits mit fünf eingeschult, dann sind sie im „nullten Schuljahr“. Die Kids lernen in jahrgangsgemischten Gruppen, herkömmliche „Fächer“ gibt es ebenso wenig wie einen Stundenplan mit 45-Minuten-Häppchen.
Die Laborschüler wechseln nicht nach Klasse vier in eine andere Schule – alle bleiben bis Klasse zehn zusammen. Es werden nicht einmal – wie in anderen Gesamtschulen – Leistungsgruppen gebildet und getrennt unterrichtet. Das erinnert alles an die gute alte DDR-Oberschule. Aber auch davon unterscheidet sich die Laborschule: Noten gibt es nämlich erst ab Klasse neun. Sitzen bleiben kann man eigentlich auch nicht. Wenn dennoch nicht alle 15-Jährigen in der Neunten sind, hängt das mit der Eingangsstufe zusammen. Die Schüler können schon nach zwei, aber auch erst nach vier Jahren in die nächste Schulstufe wechseln.
Es gehört zum Prinzip Laborschule, bei jedem Kind darauf zu achten, wie viel Zeit es braucht, um Lesen und Rechnen zu lernen, und in der Gruppe zurecht zu kommen. Kein Stress also, sondern viel Vertrauen in die Lernfreude und die Wissbegier der Kinder, mehr, als selbst viele gutwillige Eltern ertragen. „Wieso kann mein Kind nach zwei Jahren immer noch nicht ordentlich schreiben?“, ist eine Frage, die vorkommen kann. Die Antwort der Laborpädagogen lautet dann: Es beschäftigt sich halt gerade mehr mit den Kaninchen aus dem Schulzoo.
Auch wenn der soziale Hintergrund der Laborschule insgesamt besser ist als im Bevölkerungsschnitt – hier gibt es vom Professorenspross bis zum Einwandererkind eine größere soziale Spanne als an einem normalen Gymnasium, oder gar an einer Hauptschule. „Wir bemühen uns um eine soziale Zusammensetzung, die dem Bevölkerungsschnitt entspricht“, erklärt Schulleiterin Susanne Thurn. Wer als türkischer Arbeiter oder allein erziehende Mutter, als Sozialhilfeempfänger oder Bauarbeiter bei ihr oder der Eingangsstufenleiterin Heide Bambach anruft, dessen Kind hat einen Platz in der Laborschule sicher. Nur sind auch die anrufenden Sozialhilfeempfänger eher ärmlich dahindümpelnde Kunsthistoriker als abgebrochene Hauptschüler.
Und es kommen jene Schüler, unter denen jeder Hauptschullehrer stöhnt: Die „Rückläufer“, die am Gymnasium gescheitert sind. „Wir sehen das positiv“, sagt Susanne Thurn. „Bei uns haben sie die zweite Chance, und die machen oft noch erstaunliche Schulkarrieren.“
Wie gelingt es der Laborschule trotz dieser sozialen Spannweite, die Super-Leserinnen zu fördern – und gleichzeitig die Schwachen auf die so wichtige Pisa-Kompetenzstufe 2 zu heben? Früher fand man eine Karikatur in jeder GEW-Broschüre zur Gesamtschule. Vor einem Lehrer stehen eine Krähe und eine Schlange, ein Elefant, eine Maus und noch eine ganze Reihe unterschiedlicher Tiere: Ihr habt alle die gleiche Aufgabe: Klettert auf den Baum dort! Sie sollte deutlich machen, wie unsinnig es sei, an alle Kinder die gleichen Leistungsanforderungen zu stellen. Genau das machen die Lehrer an der Laborschule. Sie stellen allen Schülern die gleiche Aufgabe. Zum Beispiel in Englisch: Lies eine Ganzschrift, schreibe eine Inhaltsangabe, stelle der Gruppe den Inhalt mündlich vor und beantworte ihre Fragen. Nur: Der eine nimmt sich einen Comic vor, und die andere versucht sich am „Herrn der Ringe“.
In Geschichte sind das dann etwa so aus: Alle haben dieselbe Frage – aber die Zugänge, das Problem zu lösen, sind so verschieden wie die Kinder. Die einen gehen in die Stadt und befragen Leute; die anderen arbeiten in der Bibliothek; dritte suchen etwas im Internet. Dann wird darüber geschrieben, gemalt, fotografiert, dokumentiert. Es muss nur ein Produkt herauskommen, etwas zum Anschauen und Vorzeigen für jeden.
Letzte Woche, als der neue Schul-Anbau feierlich eröffnet wurde, konnten Besucher diese Szene beobachten. Ein Schüler forderte den Laborschul-Gründer von Hentig heraus: „Nun versuchen Sie doch mal, Herr von Hentig, mir ’ne Frage zu Walfischen zu stellen, die ich nicht beantworten kann.“ Hentig konnte es – denn der Schüler präsentierte nichts von der Schule Vorgegebenes, sondern ein selbst gewähltes Thema. Walfische eben.
Das ist das pädagogische Prinzip der Laborschule: Alle bekommen die gleiche Aufgabe – aber sie können sie unterschiedlich lösen, so wie es ihnen am besten entspricht. Hier kann jeder etwas produzieren, was er zumindest in seiner Gruppe, den Eltern oder der Schulöffentlichkeit vorstellen kann. Der Wert der eigenen Arbeit bemisst sich nicht in einer Note, sondern darin, dass man selbst und andere etwas damit anfangen können.
Literacy, das Konzept des Pisa-Tests, heißt verstehen können, eine Symbolsprache nutzen zu können. An der Laborschule wird schon in der Vorschule ungeheuer viel vorgelesen. Dann schreiben sie eigene Geschichten, die sie den anderen vorlesen, bekommen Rückmeldungen, feilen an ihrer Sprache. „Einmal in jeder Woche gehen wir mit ihnen in unsere Bibliothek, da können sie in der satten Fülle schöner Bücher wühlen. Im fünften Schuljahr schließlich schreiben sie alle ein Lesetagebuch“, erzählt Susanne Thurn.
Dem Literacy-Konzept entspricht die Laborschule. Wie sieht es aber mit dem klassischen Schulwissen aus – Dreisatz, Vokabeln und Grammatik? Daran haben auch die Max-Planck-Wissenschaftler gedacht. Deshalb haben sie neben dem Pisa-Repertoire auch das klassische Schulwissen abgetestet. Die Auswertung steht noch aus.
„An unserer Schule kann man auch ohne Standards und Tests weiterkommen.“ Meint Susanne Thurn. Sie verweist auf die SchülerInnen, die in den 28 Jahren Laborschule ihren Weg gemacht haben. Wenn schon Tests, fragt sie, warum kann sie nicht jeder Schüler ablegen, wenn er meint, er wäre so weit? „Warum müssen alle am 27. um 8.30 Uhr dieselbe Aufgabe lösen können?“
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