: Halb voll oder halb leer
Was will Putin? Rätselraten mit Spitzenjournalisten, einem Planungsexperten des Auswärtigen Amtes und einem Ex-Gorbatschow-Sprecher über die Medienpolitik des russischen Präsidenten
aus München THILO KUNZEMANN
Zumindest einer Forderung der deutschen Regierung kamen die Medienvertreter an diesem Abend nach: zusammenrücken in Zeiten der Krise. Gerade einmal drei Stühle trennten Olaf Ihlau, den Außenpolitikchef des Spiegel, von Peter Boenisch, dem ehemaligen Bild-Chefredakteur und Staatssekretär a. D.
Und auch die überwanden sie. Sprangen sich bei der Verteufelung der italienischen Medienpolitik gegenseitig fast auf den Schoß. „Medien und Außenpolitik“ war Thema des Abends der Münchner Gesellschaft für Auslandskunde. Die Berlusconi-Schelte war kaum verklungen, da störte Andrej Gratschow, von der New Times in Paris und ehemaliger Gorbatschow-Sprecher, die deutsche Einhelligkeit. „Es mag Sie stören, aber nicht nur Berlusconi, auch Schröder steht Putin sehr nahe.“ – Kein guter Leumund für den Kanzler. Verblassen doch selbst Berlusconis Mediengesetze vor den Knebelparagrafen, mit denen Moskau kritische Tschetschenienberichterstattung verbieten will.
Gratschow verwies auf den ersten Tschetschenienfeldzug unter Boris Jelzin. „Diesen Krieg haben die Medien durch ihre kritische Berichterstattung beendet.“ Man dürfe daher auch die Geiselnahme in Moskau nicht isoliert betrachten. Was jetzt geschehe, sei eine Ausbeutung dieser tragischen Ereignisse für politische Zwecke.
„Putin“, so Gratschows Theorie, „war eine der ersten Geiseln des Tschetschenienkriegs.“ – Warum wohl sonst werde dieser an sich so eisige Mann beim Thema Tschetschenien zu einem Choleriker, der ausländischen Journalisten die Kastration empfiehlt und seinen Botschafter Drohbriefe an die ARD schicken lässt?
Peter Boenisch wollte dies so nicht auf seinem Bekannten Putin – „Ich bin ihm oft begegnet“ – sitzen lassen: „Er ist ein Mann des Ausgleichs. Er ist äußerst pragmatisch und international durchaus kooperationsfähig. Und er hat sich ehrlich bemüht.“ Man solle Russland mit Sympathie und ohne Besserwisserei in die Zukunft begleiten.
Eine Meinung, die wohl auch Gerhard Schröder teilt. Schließlich erklärte der nach einem Treffen mit Putin in der vergangenen Woche in Oslo, er habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, wie der politische Prozess bezüglich des Konfliktes organisiert und vorangebracht werde.
Von bloßem Interesse konnte derweil auf der Münchner Referentenbank keine Rede mehr sein. Mit wachsender Unruhe hatte Spiegel-Auslandschef Ihlau Boenisch gelauscht, war zusehends nach vorne gesunken, und es schien, als wolle er das kleine Tischmikrofon verschlingen. „In Tschetschenien, Herr Boenisch, war Putin wohl kaum ein Mann des Ausgleichs.“ Das, konterte Boenisch, sei schon richtig. „Aber mit dem tschetschenischen Problem schlagen sich die Russen ja auch schon seit über dreihundert Jahren herum.“
Auf die irritierte Frage aus dem Publikum, was denn Putin wolle, herrschte auch unter den Experten Ahnungslosigkeit. „Putin ist wie ein Glas, das bis zur Hälfte mit Wasser gefüllt ist. Ist es halb voll oder halb leer? Wir wissen es nicht“, orakelte Gratschow. Früher habe man Putin mit dem KGB-Chef Juri Andropow oder gar mit Stalin verglichen. Heute sprächen ihm viele die Reformerrolle eines Gorbatschow zu. Bei so viel Optimismus konnte Ihlau sich einen letzten Seitenhieb nicht verkneifen. „Dann“, knurrte er ins Mikro, „macht er jetzt wohl wieder eine Rolle rückwärts Richtung Stalin.“
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