: Auf ewig anders?
Auf dem Weg nach Europa (2): Wer die Kultur des EU-Anwärters Türkei für nicht vereinbar mit der europäischen Identität hält, lebt in einer Welt, die nicht mehr existiert
Weder das Erbe des Christentums noch die Philosophie der Aufklärung haben nach dem Zweiten Weltkrieg die Vision der europäischen Einheit befeuert. Vielmehr war es die entsetzliche Erfahrung, dass Europa trotz seiner Zivilisation durch Barbarei zerstört werden kann. Prägend war die Erfahrung zweier Weltkriege, die vom europäischen Boden ausgegangen waren, die blutige Handschrift totalitärer Ideologien und die Sackgasse, in die der Nationalismus die Völker geführt hatte. Daran muss heute wieder erinnert werden – denn bei der Konstruktion einer zukünftigen europäischer Identität zeichnet sich eine Verklärung ab, die Europas blutige Geschichte aus dem Gedächtnis löschen will, um erneut zur Ausgrenzung des Anderen ansetzen zu können.
Diesmal ist der Andere die muslimische Türkei. Wie schon bei der Konstruktion nationalstaatlicher Identitäten sind auch bei deren Ausgrenzung vor allem Historiker am Werk. Zu Zeiten des klassischen Nationalismus konzentrierten sie sich auf Andere im Inneren. Historiker wie Treitschke wurden nicht müde, die Nichtkompatibilität der Juden mit der deutschen Nation zu betonen. Zur Argumentation wurden Versatzstücke aus dem geschichtlichen Prozess herausgerissen und nach Belieben kombiniert. Schließlich ging es ja nicht um Vergangenheit, sondern um die Zukunft.
Diese Argumentationsstrategie führte zum „Judenproblem“. Heute scheinen die Wege kürzer zu sein: Das „Türkenproblem“ steht nicht am Ende eines Disputs, sondern bildet dessen Anfang – quasi als Grundlage weiterer Überlegungen. Ein Dialog mit oder um die Türken wird nicht einmal angestrebt. Vielmehr wird von vornherein eine Sprache gewählt, die jedes Gespräch unmöglich macht. Solch schwere Geschütze müssen aufgefahren werden, denn der Andere ist, ähnlich wie der assimilierte Jude im Deutschen Reich, dem Eigenen sehr nahe gerückt. Es ist nicht einmal sichergestellt, ob der Rückgriff in die historische Dunkelkammer zu Kaisern und Sultanen ausreicht, um ihn wieder an seinen Platz zu stellen: draußen vor der Tür.
Atatürks moderne Türkei soll ein Missverständnis gewesen sein – ähnlich wie Hitlers Deutschland. Der eine darf nicht ins Gedächtnis, der andere muss wieder raus. Die erfolgreiche Modernisierung der Türkei stört die Baumeister der europäischen Identität ebenso wie Hitlers Barbarei. Also taucht die Erinnerung an Hitlerdeutschland in der Konstruktion der neuen Identität gar nicht mehr auf. Das hat weit reichende Konsequenzen für das Selbstverständnis Europas – und es verheißt nichts Gutes, dass es gerade deutsche Historiker sind, die sich berufen fühlen, die Akzente zu setzen. Denn in Deutschland ist die Neigung zum Idealismus nach wie vor groß, zur rationalen Analyse historischer Prozesse jedoch gering. Die Folge ist eine Scheindebatte, mit hohem Symbolgehalt und wenig Realitätsbezug.
„Gehört die Türkei zu Europa?“ ist seit der Gründung der türkischen Republik 1923 keine Frage mehr. Heute ist die Türkei Mitglied in allen europäischen Organisationen. Aber die Türken haben doch eine ganz andere Kultur, heißt es in vielen Kommentaren. Was für ein Kulturverständnis steht hinter dieser Behauptung? Ist Kultur ein statischer Raum, luftdicht abgeschlossen, vom Wandel ausgeschlossen? Was taugen eigentlich Historiker und andere Wissenschaftler, die einem solchen Kulturbild anhängen?
Kulturelle Grenzen gibt es überall in Europa: zwischen Deutschland und Frankreich wie zwischen Kroatien und Serbien. Ja selbst in Deutschland gibt es noch immer Kulturgrenzen, den Weißwurstäquator etwa. In den vergangenen 50 Jahren sind diese Grenzen durchlässiger geworden. Noch vor einem halben Jahrhundert war eine katholisch-protestantische Hochzeit ein Problem. Heute diskutieren wir die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. Wer in einer solchen Situation eindeutige, nicht überwindbare Kulturmauern aufbauen will, hat weder die Konsequenzen der Globalisierung begriffen noch die Folgen der Migrationsprozesse. Er lebt in einer Welt, die nicht mehr existiert, verhaftet in einem Denken jenseits der Realitäten. Wenn sich Historiker berufen fühlen, eine nicht mehr existierende Welt zur Gegenwart oder gar zur Zukunft zu erklären, dann verraten sie nicht nur ihre Zunft. Sie bieten auch Identitätsmodelle an, die zum ideologischen Missbrauch geradezu einladen.
Nun ist jede Identität konstruiert und basiert bis zu einem gewissen Grad auf Ausgrenzung. Bei der Konstruktion zukünftiger europäischer Identität aber gilt es aus den Fehlern zu lernen, die die Konstruktion nationaler Identitäten begleitet haben. Dazu gehört auch, einen Kulturraum oder ein Volk als unwandelbar darzustellen, sie quasi aus der Geschichte herauszulösen, um sie als „andersartig“ stigmatisieren zu können. Nichts anderes geschieht zurzeit in Bezug auf die Türkei. Dabei ist bemerkenswert und keineswegs ein Widerspruch, dass die gleichen Ausgrenzungsmechanismen auch dort existieren. Die Härte des türkischen Nationalstaates gegen nationale Minderheiten ist nicht etwa ein Erbe der muslimischen Tradition, sondern eine Begleiterscheinung der Modernisierung und Verwestlichung der modernen Türkei.
Die Überwindung nationalstaatlicher Identitäten in einem vereinten Europa kann nur gelingen, wenn die europäische Identität nicht nach demselben Muster konstruiert wird wie die nationale. Es gibt einen eindeutigen Auftrag der Gründungsväter der europäischen Einheit: den Friedensauftrag, dessen Kern der Ausgleich und die Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich ist. Die politischen Verantwortlichen in Griechenland haben dies begriffen. Deshalb arbeiten sie auch gegen den Widerstand breiter Kreise im eigenen Land an einer Annäherung an die Türkei.
Dort ist ein ähnlicher Prozess in Gang gekommen. Eine türkisch-griechische Aussöhnung hätte Ausstrahlungskraft auf den ganzen Balkan. Sie kann dazu beitragen, den labilen Frieden in dieser unruhigen Region zu sichern. Das Versagen der Europäischen Union in Exjugoslawien hat hunderttausenden von Menschen das Leben gekostet. Wer daraus gelernt hat, wird sich bemühen, in Zukunft sehr nüchtern mit konfliktgeladenen Grenzen umzugehen – und davon absehen, Emotionen anzuheizen und Gräben zu vertiefen.
Oder brauchen wir Europäer den Türken als Feindbild, um unsere ins Unbewusste verdrängte Kreuzzugsmentalität zu pflegen? Brauchen wir den Muslim als Terroristen, als radikalen, barbarischen, frauenverachtenden Agitator, der jenseits unserer Zivilisation steht? Wenn dem so ist, dann steht die Türkei tatsächlich im Wege. Denn dieses muslimische Land ist uns zu nahe gerückt. Es ist interessant zu beobachten, dass die türkeiskeptischen Stimmen immer lauter werden, je mehr sich die Türkei Europa annähert. Das ist kein Paradox, sondern ein Beleg dafür, dass es gar nicht darum geht, die Türkei europakompatibel zu machen – sondern um die Angst, sie als den ewig Anderen zu verlieren. ZAFER ȘENOCAK
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