: Endlich unabhängig arm
Grundsicherung soll verschämte Armut beheben: Einkommensgrenze für unterhaltspflichtige Eltern und Kinder steigt / Beratungsstelle kritisiert: „Insgesamt immer noch zu wenig“
30 Prozent derer, die ein Recht auf Sozialhilfe haben, nehmen diese Hilfe nicht in Anspruch. Das sind vorsichtige Schätzungen, die für die Bundesrepublik insgesamt gelten – in Bremen geht man von einer ähnlichen Dunkelziffer aus. Durch das neue Gesetz der „bedarfsorientierten Grundsicherung“ will man nun einen Teil dieser „verschämten Armen“, so Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD), zu ihrem Recht kommen lassen.
Am 1. Januar des kommenden Jahres tritt bundesweit das Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Kraft. Männer und Frauen über 65 und dauerhaft erwerbsgeminderte Personen ab 18 Jahre können dann eine einkommens- und vermögensabhängige finanzielle Grundsicherung erhalten. Sozialsenatorin Karin Röpke: „Wir wissen, dass viele ältere Menschen, die Anspruch auf Sozialhilfe hätten, den Weg zum Sozialamt scheuen – auch aus Angst, dass ihre Kinder dann dafür in Anspruch genommen werden könnten“. Bei der Grundsicherung dürfen Eltern oder Kinder bis zu 100.000 Euro im Jahr verdienen, ohne unterhaltspflichtig zu sein. Der Grenzwert liegt bei der Sozialhilfe weit tiefer.
Das Sozialressort rechnet mit rund 10.000 Menschen, die Anspruch auf die Grundsicherung haben werden. Unter ihnen werden nach Ressort-Schätzungen bis zu 1.800 Männer und Frauen sein, die bereits jetzt Sozialhilfe hätten beziehen können.
Neben den Einkommensgrenzen für nächste Verwandte liegt der wesentliche Unterschied zur Sozialhilfe darin, dass keine Einzelanträge für Kleidung, Hausrat et cetera gestellt werden müssen, sondern monatlich ein Pauschalbetrag überwiesen wird.
„Pauschale Beträge können auch pauschal gekürzt werden“, formuliert die grüne Bürgerschaftsabgeordnete und Sozialpolitikerin Karoline Linnert ihre Kritik an der Grundsicherung, die aber ansonsten ihre Zustimmung findet. Dass der in der Grundsicherung enthaltene Zuschuss zum Wohngeld nicht pauschal sondern abhängig von Bedarf und realen Mietkosten errechnet wird, ist der Oppositionspolitikerin „sehr, sehr wichtig“. Denn die Mietkosten könne man politisch nunmal nicht steuern. Von dem Vorwurf aber, man schrecke die verschämten Armen dadurch weiter ab, dass auch die Grundsicherung – genau wie die Sozialhilfe – bei den Sozialzentren beantragt werden muss, hält sie wenig. „Damit würde man ja ausdrücken: Sozialämter sind schrecklich“, so Linnert. Die Botschaft müsse aber sein: „Es gibt ein Recht auf Hilfe zum Lebensunterhalt, und dieses Recht kann man ohne Wenn und Aber in Anspruch nehmen.“
Für Martin Lühr, Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft arbeitsloser BürgerInnen ist zwar der Ansatz, nämlich ältere Menschen, die sich für ihre Armut schämen, aus der Reserve zu locken, richtig. „Aber insgesamt ist es noch immer zu wenig.“
Über den Daumen gepeilt liegt die Grundsicherung rund 15 Prozent über dem Sozialhilfesatz. Für einen so genannten Haushaltsvorstand erhöhe sich der Anspruch dann um 43 Euro, so Lühr. „Aber sobald Mehrbedarf, etwa für eine besondere Ernährung, auftaucht, ist man schnell wieder bei einem zusätzlichen Sozialhilfebedarf“. Denn nur im Rahmen der Sozialhilfe können Anträge auf besondere Leistungen gestellt werden.
Elke Heyduck
In Bremen nehmen die jeweils für einen Stadtteil zuständigen Sozialzentren des Amts für Soziale Dienste die Anträge entgegen, beraten und unterstützen bei der Antragstellung. Beratungsstellen der gesetzlichen Rentenversicherung (BfA, LVA Bundesknappschaft) nehmen ebenfalls Anträge entgegen. Die Rentenversicherungsträger schicken Rentnern Informationen zur Grundsicherung und ein Antragsformular zu.
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