: Skinnygirl. 1,74 Meter, 47 Kilo
von ASTRID GEISLER
Selten traut sich Klara aus dem Untergrund heraus. Ohne Tarnung ist sie verletzlich. Puppengerade sitzt sie da auf dem Sofa einer dunklen Großstadt-Kaffeebar, zieht hastig an der Zigarette, noch mal und noch mal. Klara ist erst 15. Es könnte ihr erstes Date sein, so nervös wie sie ist. Aber Klara ist aufgeregt, weil sie ihre Geschichte erzählt. Sie handelt von einer Website mit großen, bauchigen Buchstaben in rosa, mint und rot. Die Schrift passt zu Teenie-Träumen wie: „Hab dich lieb! Willst du mit mir gehn?“ Klara aber schreibt: „Ich will nur noch eins, den ausgemergelten, anorektischen Körper, den übertriebenen Perfektionismus.“ Oder: „Ich will heilig werden, ich will verzichten.“ Oder: „Ich will Macht durch Hunger.“
Sie bestellt einen großen Kaffee, schwarz. Milch wäre Sünde. Sie redet nur, weil ihr wahrer Name geheim bleibt und das Pseudonym, das sie in der Szene benutzt, auch. Denn wer Klara kennt, soll das Wichtigste nicht wissen: Dass sie eine Pro-Ana-Aktivistin ist. Ana wie Anorexia wie Magersucht. Eine von hunderten in Deutschland, tausenden in den USA, die anonym im Internet kämpfen für das Recht auf Hunger in der Welt oder zumindest im eigenen Magen. Sie benutzen im Internet alle Pseudonyme, Klara könnte dort Skinnygirl heißen. „Pro Ana ist ein Hardcore-Lifestyle“, sagt Klara. „Wir sehen das als Lebenseinstellung, ständig auf Diät zu sein. Man will einfach dünn sein. Man hebt sich dadurch von den anderen ab. Man hat ein Geheimnis.“
Es war in den Osterferien vor einem Jahr, als Klara begann, sich zum Skinnygirl zu wandeln. Sie besuchte ihre Cousine. Die Verwandten hatten eine moderne Waage. Klara wog sich morgens und abends und jedesmal, wenn sie aufs Klo gegangen war. Sie war fasziniert und erschüttert. Immer zeigte die Waage 58 Kilo an. „Pralinen, Schokolade, Bonbons – meine Cousine und ich waren schreckliche Naschkatzen“, sagt Klara. „Ich sah ziemlich scheiße aus. Da hab ich mir vorgenommen: Du veränderst dich jetzt.“
Sie hungerte, kaufte bei 53 Kilo das erste Jugendbuch über ein magersüchtiges Kind. Inzwischen stehen zehn in ihrem Regal. „Mit jedem Buch war ich faszinierter.“ In den Büchern fand Klara Adressen von Websites wie www.hungrig-online.de, die Magersüchtigen helfen wollen. Und dort las sie zum ersten Mal von der Pro-Ana-Szene. Wenig später gehörte sie selbst dazu: Skinnygirl, 1,74 Meter, 47 Kilo.
Wenn die Schule aus ist, die Zimmertür zu, das Modem an, wird sie aktiv. Skinnygirl hat eine eigene Homepage gebaut. Sie beobachtet die US-Szene, imitiert und kopiert. Auf ihrer Internetseite gibt es alles, was gerade angesagt ist: Hungeranleitungen, ihre Zehn Pro-Ana-Gebote, ein Pro-Ana-Glaubensbekenntnis, einen Abnehmtreff, mehrere Diskussionsforen. „Wenn du isst, trinke nach jedem Bissen einen Schluck Wasser“, rät Skinnygirl. „Trinke eiskaltes Wasser, denn der Körper muss Kalorien verbrennen, um sich wieder aufzuwärmen. Sitze stets aufrecht, das verbrennt 10 Prozent mehr Kalorien! Bei dollen Bauchschmerzen roll dich zu einer Kugel zusammen, das hilft.“ Ihr Glaubensbekenntnis endet mit dem Satz: „Ich glaube an eine Welt, die nur aus schwarz und weiß besteht, an den Verlust von Gewicht, das Vergeben von Sünden, die Ablehnung des Fleisches und an ein Leben voller Hunger.“
Die Eltern zu Hause, die Freunde, die Lehrer in der Schule sehen eine Klara, deren Gesicht spitzer geworden ist, die den Models aus der Klamottenwerbung nacheifert, sich makellos schminkt, den Bauchnabel frei trägt, enge Schlagjeans über den langen Beinen, Stöckelschuhe. Ein bisschen schnell gewachsen das Mädchen, könnte man denken. Doch Klara ist nicht gewachsen. Sie hat alles Weiche weggefastet, herausgewürgt. Das Kind in ihr starb nicht sanft, es verhungerte.
Der Vater hatte es eigentlich gut gemeint, als er Klara einen neuen PC auf den Schreibtisch stellte, einen mit Internetzugang. Möglich, dass die Mutter schon etwas ahnte damals. Denn nach Weihnachten sagte sie: „Jetzt darfst du aber nicht mehr weiter abnehmen, Klara.“ Doch der Vater hielt dagegen: „Sieht doch gut aus, so wie sie jetzt ist.“ Klaras Vater ist ein Geschäftsmann, die Mutter Pädagogin, der Bruder studiert. Von Ferne betrachtet hat Klara, was sich viele Kinder wünschen: ein aufgeräumtes Zuhause, wo es nicht an Geld fehlt und nicht an gutem Willen. Sie darf surfen, so lange sie will, Papas Firma zahlt. Doch Klara würde gerne tauschen, am liebsten sofort. „Abends“, sagt sie, „sitzt jeder vor dem eigenen Fernseher.“ Sie muss alleine zurechtkommen mit ihren Lügen, ihrer Panik, ihrer Waage, ihrem Glaubersalz, ihrem Kotzen und ihrem verrückten Magen, der immerzu leer sein will. Klara weiß nicht, ob die Eltern etwas merken. „Wenn, dann sagen sie’s halt nicht.“
Trost sucht Klara draußen im Internet. Fast täglich tauscht sie als Skinnygirl im Netz zärtliche Botschaften aus mit anderen Anas, die sich Butterfly oder Kati_the_skinny oder Like_the_air oder Knochenmausi nennen.
Die Hungernden und Brechenden schreiben eine eigene Sprache, in der das Grauen Kosenamen trägt. In ihren Briefen geht es um Mia wie Bulimie, die Essbrechsucht, um Thera wie Therapie, um FA wie Fressanfall, um ES wie Essstörung. Sie senden Nachrichten wie: „Hallo Skinnygirl! Schon wieder FA gehabt. *seufz* Bin jetzt bei 52 Kilo! Werde morgen nur EINEN Apfel essen und 50 Bahnen schwimmen. Lass mal von dir hören. *knuddel* Alles liebe, deine Butterfly“ Oder: „Hat von euch schon mal jemand Abführmittel ausprobiert? Kriegt man das einfach so in der Apotheke? Ratlos, Knochenmausi.“
„Diese Foren sind wie eine große Familie“, sagt Klara. „Die geben Halt, weil wir alle das gleiche Problem haben. Man sagt sich alles, weil man die Anonymität hat. Zu wissen, ich bin nicht die Einzige, der es so scheiße geht – das ist gut.“
Seit Jahren schon denkt Klara, sie sei zu schlecht für ihre Eltern. Eine Niete in Mathe, zu schwach fürs Gymnasium, nicht wahnsinnig sportlich, kein großes Musiktalent. „Ich glaube“, sagt sie, „die meisten Anas kommen aus Familien, wo hohe Ansprüche gestellt werden. Wenn man selbst nichts so richtig kann, sucht man sich halt irgendwas, welche Disziplin auch immer.“
Sie will bewundert werden für ihren Körper, ihre Website. Das ist das Wichtigste. Andere Ziele spuken eher mal so, mal so durch ihren Kopf, meist gejagt von irgendwelchen Ängsten. Der Wunsch nach herausstaksenden Hüftknochen zum Beispiel. Von denen schwärmte ihr einst Knochenmausi vor, als sie auf 35 Kilo war. „Männer stehen total drauf, sich beim Sex daran festzuhalten“, schwor Knochenmausi. Klara weiß nicht so recht. So „kz-mäßig superdünn“ sollte die ideale Ana auch nicht aussehen, findet sie: „Man will doch stark aussehen und nicht bemitleidet werden.“
Zuweilen, sagt Klara, warnt ihr Gewissen: Deine Website stiftet an! Du machst noch mehr Mädchen unglücklich! Ihr ist klar, wo das Hungern und Kotzen für viele endet – in der Klinik oder auf dem Friedhof. Sie sieht ihre Schwierigkeiten und handelt trotzdem nicht anders.
Sie hat nicht vergessen, wie sie weinend ins Bett kroch vor ein paar Monaten, weil ihre Pro-Ana-Website weg war. Einfach abgeschaltet, plötzlich. Sie stellte den Computer an, es kam nichts. Alles gelöscht. Freundschaften, Texte, Hoffnungen. Der Provider hatte den Inhalt für „gesundheitsgefährdend“ befunden.
Gesund oder krank – Klara ist das eins. Sie kann sich kein sattes Leben mehr vorstellen mit Cornflakes zum Frühstück, Nudeln mittags und dann noch Abendbrot. Zu ihrem Leben gehören Skinnygirl, die Internet-Freundschaften mit den traurigen, gesichtslosen Mädchen. So hat sie noch einmal angefangen, besser getarnt, auf einer Website mit harmlosem Namen und bunter Fassade. Sie wartet auf den Tag, an dem wieder genauso viele Anas zur ihr finden wie früher, träumt von einem Klub mit geheimen Erkennungszeichen: Wenn alle Anas sich eine Kette aus weißen Glasperlen um den Hals legten, wie sie selbst, dann wüsste jede in der Schule, wer noch so dazu gehört.
Doch auch die Angst pocht immer lauter. „Es ist schwierig, dieses Scheinbild aufrechtzuerhalten“, sagt Klara in der Kaffeebar. „Jeden Tag spielen: Ich bin ein ganz normales Mädchen, dem es gut geht. Keine Ahnung, wie lang ich das noch schaffe.“ Dann schweigt sie.
Zwei Tische weiter sitzt eine fröhlich Runde, futtert Kuchen und dick gefüllte Pfannkuchen. Andere Mädchen würden jetzt weinen. Klara starrt vorbei, macht, was sie jeden Tag übt: hart bleiben, aushalten. An ihrem Kaffee hat sie kaum genippt.
Sie kramt in der Handtasche, zieht zwei ordentlich gefaltete Zettel heraus. Es sind Gedichte, handgeschrieben mit blauer Tinte „von Klara L.“. Manchmal, wenn ihr auch der Kampf als Skinnygirl verloren scheint, macht Klara den Computer aus und reimt. Zeilen und Strophen, die am Ende immer irgendwie aufgehen. Die nette Mädchenschrift würde Eltern und Lehrer bestimmt erfreuen, Klaras Botschaft nicht: „Das Mädchen schwebt empor, geradewegs zum Himmelstor. Wäre sie nicht fortgegangen, hätte sie wieder überm Klo gehangen.“
Die Leute draußen sehen eine andere Klara. Ein hochgeschossenes Mädchen, das auf dem Weg zum Bahnhof in einem Klamottenladen nach Turnschuhen mit den richtigen Streifen sucht und minutenlang darüber reden kann, warum der dunkelblaue Aufdruck „Ahoi“ besser ist als „Bluna“ in Grün.
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