: Jungsohrfeige auf Mädchenwange
Gewalt und ihre Gründe sind nur ein Thema des Kreuzberger Jugendtheaters „Strahl“. Seit 15 Jahren beschäftigt sich die Spielstätte mit Minderheiten und Außenseiterthemen. Lust auf das Medium Theater sollen die Stücke zusätzlich wecken
von SUSANNE LANG
Plötzlich ist es passiert. Die Arme des zierlichen Jungen auf der Bühne beginnen zu zucken. Die rechte Hand schnellt nach oben. Quer durch die Luft. Hart und fest auf das rot-geschminkte Bäckchen des Mädchens vor ihm. Klatsch und Peng und es ist passiert: In die Welt des 16-jährigen Max Drögel hat sich schon wieder ein Loch gefressen. Diesmal ist es das „Ich habe meine Freundin geschlagen“-Loch. Im Zuschauerraum knarzen Stuhlbeine auf dem Parkettboden, ein paar Jungs applaudieren, viele raunen und starren auf die Bühne. Eine Ohrfeige. Eine Jungsohrfeige auf eine Mädchenwange. Würde mir das passieren? Und warum ist es gerade Max passiert? Solche Fragen möchte das Jugendtheater „Strahl“ seit 15 Jahren aufwerfen.
Wie entsteht Gewalt, woher kommt sie – das ist ein Thema in „Wilder Panther, Keks!“, einem der ersten und erfolgreichsten Stücke des heute drittgrößten Jugendtheaters in Berlin. Gefühle und Sucht, das sind die anderen beiden. Die Lebensgeschichte von Max Drögel, einem Durchschnittsjugendlichen, der irgendwann zu Drogen greift, um die vielen Gefühlslöcher zu stopfen – das erzählt „Wilder Panther, Keks!“ in Rückblicken auf verschiedene Lebensphasen.
„Minderheiten und Außenseiter sind unsere Schwerpunktthemen“, erklärt Wolfgang Stüßel. Der Pädagoge und Schauspieler ist seit 1987 im Team, mittlerweile ist er künstlerischer Leiter. „Im Grunde haben sich die Schwerpunkte aus dem ersten Projekt entwickelt“, sagt Stüßel. Mit erstem Projekt meint er ein Stück zum Thema Aids, aus dem sich das Jugendtheater gegründet hat. Die Initiatoren Reiner Strahl und Gila Schmitt erarbeiteten mit einem kleinen Team das Stück „Dreck am Stecken“ und tourten damit durch die Stadt. Damit war der Startschuss für eine dauerhafte Theaterarbeit gefallen, ein Rahmen für das künstlerische Konzept abgesteckt. Aktuell stehen fünf Stücke auf dem Spielplan des Ensembles an der Urbanstraße 45, wo das Theater Strahl 1992 seinen regelmäßigen Repertoire-Spielbetrieb aufgenommen hat.
Das Konzept von damals macht bis heute die Art von Jugendtheater aus, für das „Strahl“ steht: Themen aufgreifen, die nirgends angesprochen werden. Sexueller Missbrauch oder etwa gleichgeschlechtliche Liebe. Dabei Ansprechpartner für andere pädagogische Einrichtungen sein. Aufklären, Begleitmaterial anbieten, Theater-Workshops veranstalten. Stücke aus der persönlichen Erfahrung und aus Gesprächen mit Fachleuten entwickeln. Auf der Bühne improvisieren, Szenen spielen und anschließend zu einer Dramaturgie zusammenstellen.
Und dabei offen bleiben für improvisierte Änderungen. Reaktionen aus dem Publikum aufnehmen und ins Stück hineinspielen. Auch wenn es bereits die 250. Ohrfeige ist, die André Fischer in der Vorstellung heute als Max Drögel ausgeteilt hat. „Wir mögen das Stück sehr gerne“, schwärmt der Schauspieler, der mit seiner Rolle als Max beim Ensemble eingestiegen ist und sie seither in allen 250 Aufführungen gespielt hat. „Aber wir müssen darauf achten, dass es lebendig bleibt und nicht zur Routine wird.“ Auch darum geht es, wenn der mittlerweile 42-Jährige als 16-jähriger Max auf der Bühne schlägt, tanzt, weint und flirtet. Oder als 5-Jähriger schmollt, trommelt, Daumen lutscht und vom Vater angeschrien wird.
Auf der Bühne stehen, den Kontakt zu den Jugendlichen direkt suchen – das ist auch Wolfgang Stüßel sehr wichtig. „Jugendtheater ist eine besondere Form von Theater“, sagt er, „eine direktere.“ Jugendliche reagieren spontan, rufen dazwischen, stören oder klatschen. „Man muss es schaffen, sie abzuholen“, erklärt der Schauspieler.
Von dem Publikum der „Panther“-Vorstellung ist er sehr angetan. „Lebhaft und sehr aufmerksam“, meint er. Stüßel steht im Foyer und hat seine Rauschgold-Engelsflügel vom Rücken geschnallt. Die Rolle des Engels, dem Max Drögel nach seiner Überdosis im Himmel begegnet, hat Pause. Von dem Zweimetermann ist nur der Kopf zu sehen, der aus einer Schar von Schülern hervorragt. „Toll war’s“, sagt ein Mädchen, während es in dem Gästebuch blättert, das auf dem Stehtisch liegt. „Mega-doll-dickes Lob“, steht dort. „Stück toll, auch die Schauspieler“. Darunter die rundlich-gemalte Unterschrift einer anderen Schülerin. Bei den meisten Jugendlichen findet „Wilder Panther, Keks!“ ähnlich guten Anklang. Ein Grund dafür liegt für Stüßel im Respekt, mit dem „Strahl“ den Jugendlichen begegnet. „Wir nehmen sie ernst, ergreifen Partei für sie“, betont der Leiter. „Das passiert nicht mehr so oft in Zeiten, wo viele Jugendeinrichtungen aus Spargründen weggekürzt werden.“
Sein Gespräch mit den Schulklassen im Foyer ist eine Form des Ernstnehmens, der Kontaktaufnahme. Eine andere ist ein kleiner Trick. „Mach sie dir zum Komplizen“, beschreibt ihn André Fischer und grinst dabei schelmisch. „Manchmal treffe ich mit einzelnen Leuten im Publikum ein Abkommen“, erklärt der Schauspieler. „Kleine Aufpass-Aufgaben machen stolz und wecken die Lust am Mitspielen.“
Dass kleine Tricks Schüler nicht immer in heiße Theaterfans verwandeln, überrascht die Pädagogen nicht. „Fand das Theater eigentlich gar nicht schlimm, aber sonst ist es nicht mein Ding“, steht zum Beispiel auch im Gästebuch. Wichtig ist dem Ensemble aber, dass die Jugendlichen das Medium Theater überhaupt entdecken. „Wir wollen auch ästhetisch bilden“, sagt Stüßel, „nicht nur inhaltlich.“ Andere Sichtweisen öffnen und die Fantasie anregen. „Theater ermöglicht eine ganz andere Offenheit, ein direkteres Erleben von Menschen und ihren Problemen als das Kino“, meint der Leiter. Ein Klatschen, ein Raunen, Stühlerücken und Stüßel weiß, die Ohrfeige hat genau getroffen. Fast auf die eigene Wange. Auch wenn ein paar Jungs aus Unsicherheit applaudieren.
Stüßel steht noch im Foyer. Zwei Mädels schreiben ein paar Zeilen ins Gästebuch, bevor sie gehen. „Bis zum nächsten Mal“, ruft er ihnen nach. Dann überlegt er kurz und meint: „Das schönste Kompliment für uns ist, wenn Schüler sagen, wir haben sie erreicht.“
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