: Ein Sport für Spillerige
Fußball in den USA – wird das jemals eine runde Sache? Seine Etablierung wird behindert, weil Fußball bereits als Frauenfußball sehr populär ist – und damit für „hegemoniale“ Männer unattraktiv
von MALTE OBERSCHELP
Als sich der überwiegende Teil der Erdbevölkerung 1998 vor dem Fernseher versammelte, um die Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft in Frankreich anzuschauen, präsentierte David Letterman dem amerikanischen TV-Publikum in seiner Late Night Show die „Top Ten Ways to Make Soccer More Exciting“: „Nehmt vier Bases dazu, einen passenden Ball und einen Schläger, ganz wie in einem richtigen Sport.“ Warum, meinte er, warum nicht gleich Baseball?
Umgekehrt und ähnlich respektlos hatten sich vier Jahre zuvor die großen Fußballnationen über die USA mokiert, damals selbst Gastgeber des WM-Turniers. Wie ein Skiweltcup in der Sahara mute die Veranstaltung in einem Land ohne Fußballtradition an, fanden die Kritiker. Und jene amerikanischen Stadionbesucher, die beim Freistoß über ein Tor jubelten, weil sie sich beim American Football wähnten, wurden bei europäischen Fans zur beliebten Stammtischlegende.
„Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?“, wollte zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Soziologe Werner Sombart wissen. Die amerikanischen Kollegen Andrei S. Markovits und Steven S. Hellerman wenden diese Fragestellung ins Sportliche: Ihr Buch „Im Abseits. Fußball in der amerikanischen Sportkultur“ untersucht, warum in den Vereinigten Staaten Fußball wenig populär ist.
Und das, obwohl Fußball im Jugendbereich in den USA Breitensport und der Frauenfußball so professionell organisiert ist wie nirgends sonst auf der Welt. An die zwanzig Millionen Amerikaner spielen Soccer, darunter acht Millionen Frauen. Aber Markovits und Hellerman geht es in ihrer Untersuchung um den Fußball als kulturelles Moment: beim guy talk in der Kneipe, als kollektives Fernsehereignis und literarisches Thema, mit allen Absonderlichkeiten des Fantums, als Teil nationaler Identität.
Den Anstoß für seine Arbeit, schreibt Markovits, erhielt er am 21. Juni 1986: An jenem Tag flog er nach Boston und fragte den Zollbeamten nach der WM-Partie Brasilien–Frankreich. Der Mann verstand nicht einmal die Frage; auf seinem Minifernseher waren Bilder vom Baseballspiel der Boston Red Sox zu sehen.
Die Gründe für die Fußballabstinenz der USA sind historischer Natur und folgen dem amerikanischen Sonderweg in der Politik. Markovits und Hellermans spannende Analyse vom Siegeszug der „Großen Dreieinhalb“ – Baseball, Football, Basketball und das weniger dominante Eishockey – hat ergeben, dass nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Hilfe des Fernsehens nur jene Sportarten zu nationaler Bedeutung aufsteigen konnten, die zwischen 1870 und 1930 eine Massenbasis aufbauten. Das war aber genau die Ära, während der der Fußball sich den Ruf als „unamerikanisch“ zuzog.
Zwar stammten auch Baseball und Football von englischen Sportarten ab: Rounders und Rugby. Beiden Spielen verpassten jedoch die Amerikaner durch modifizierte Regeln einen so eigenständigen Charakter, dass kaum etwas an ihre Herkunft aus der ehemaligen Kolonialmacht erinnerte. Basketball, 1891 von einem Sportlehrer in Springfield, Massachusetts, konzipiert, war sowieso eine pur amerikanische Erfindung. Fußballer erschienen integrationsunwillig, als wollten sie sich voller Europanostalgie den Mechanismen des Melting Pot auf sportlichem Gebiet entziehen – zumal die Mannschaften sich häufig nach ethnischen Zugehörigkeiten organisierten. Und eine Fifa, die irgendwo in Europa die Regeln bestimmen wollte, war den Amerikanern so suspekt wie heutzutage der Internationale Gerichtshof.
Für den Fußball in den USA hatte das so weit reichende Konsequenzen, dass noch die 1996 gegründete Major League Soccer sowie die 2001 gestartete Frauenprofiliga trotz beachtlicher Anfangserfolge Experimente mit ungewissem Ausgang bleiben. Während Baseball oder Football – wie der Fußball in Europa – auf der Zuschauerklientel der männlichen, heterosexuellen, patriotischen Arbeiter und unteren Mittelschicht basieren, kommen beim US-Fußball Spieler wie Zuschauer meist aus den Suburbs, besitzen gute Schulbildung, sind relativ wohlhabend und schätzen den Fußball gerade als multikulturelles Phänomen.
Das sorgt für Distanz zum traditionellen Fanverhalten und grenzt den Fußball deutlich von seinen Konkurrenten ab. „Das Spiel fand Anklang bei jungen, berufstätigen Amerikanern in leitender Position, die sich für ihre Kinder ein Spiel wünschten, bei dem es nicht um Konfrontation ging, das gewaltfrei war, oft von Mädchen und Jungen gemeinsam gespielt wurde und sich von dem unterschied, was sich viele gebildete und besser gestellte Amerikaner als krasses und brutales Milieu der Großen Dreieinhalb vorstellten“, schreiben Markovits und Hellerman.
Im Umkehrschluss lässt sich ahnen, warum am Old-School-Fußballstandort Deutschland ein Nationalspieler wie Oliver Bierhoff bei Zuschauern und Medien so unbeliebt war: Hierzulande irritiert ein eloquenter Kicker, der aus begütertem Elternhaus stammt. So erklärt sich der phänomenale Erfolg des Frauenfußballs in den USA. „Der spielt wie ein Mädchen“, gilt auf deutschen Dorfplätzen immer noch als Beleidigung.
In den USA ist Mia Hamm berühmter als jeder männliche Fußballstar; Volvo dreht TV-Spots, in denen Daddy seine Tochter zum Fußballtraining bringt. Und das Bild von Brandy Chastain, die beim WM-Sieg 1999 nach dem entscheidenden Elfmeter ihren Waschbrettbauch samt Sport-BH zeigte, gehört zur Ikonografie des Landes.
Stärker als Markovits und Hellerman betont Allen Guttmann die geschlechtsspezifische Dualität der US-Sportwelt. Er bringt den Begriff der „hegemonialen Maskulinität“ ins Spiel: die Behauptung der Dominanz gegenüber Frauen und Schwulen. Ein Konstrukt, das sich in Gestalt des Highschool-Quarterbacks, der jedes Girl kriegt und männliche Brillenträger verkloppt, in unzähligen Teeniefilmen widerspiegelt. „Mit Fußball stand eine Sportart zur Verfügung, die noch nicht als typisch männlich festgelegt war. Baseball, Basketball, American Football und Eishockey waren die Demonstrationsmittel hegemonialer Maskulinität“, so Guttmann.
Gerade weil Fußball in den USA als Frauenfußball so erfolgreich ist, könnte das die Durchsetzung des Sports als Identifikationsobjekt beider Geschlechter verhindern: weil ihn in den Augen der Rednecks nur Frauen, Schwule, Latinos und Leute spielen, die für das Footballteam zu spillerig und beim Basketball zu klein waren. So bleibt, während die Amerikanisierung des deutschen Fußballs mit Konservenapplaus auf Schalke und Cheerleadern in Cottbus voranschreitet, das Spiel in den USA nur eine Randerscheinung.
Geht es nach dem Sciencefictionfilm „Starship Troopers“, bleibt das auch so: In einer globalen Konföderation des Jahres 2400 spielen die Menschen sogar in Buenos Aires Football. Und wenn bei der Armee ein Koffer mit Fußbällen und Footballeiern ins Spiel kommt, fliegen nur Letztere durch die Luft.
Markovits und Hellerman wagen keine Prognose zum Schicksal des Fußballs in ihrer Heimat. Aber sie machen keinen Hehl daraus, dass sie sich über dessen Emanzipation freuen würden. Gerade Markovits, der als Kind in Ungarn fußballsozialisiert wurde und nach der Emigration in die USA eine ähnlich tiefe Zuneigung zu den Sportarten amerikanischer Heteromänner entwickelte, ist Fan und räumt die autobiografische Dimension freimütig ein.
Aber vielleicht ist die Frage gar nicht von Belang, ob die USA eine Fußballkultur entwickeln sollten. Im britischen Spielfilm „Die Kampfmaschine“ spielt ein Fußballteam von Sträflingen – angeführt von Vinnie Jones, dem ehemaligen Bad Boy der Premier League – gegen die Gefängniswärter. Der Streifen ist ein Remake des US-Footballdramas „The Longest Yard“ mit Burt Reynolds als Knastquarterback. Im Gegenzug arbeitet Hollywood an einer neuen Verfilmung des in London entstandenen Buches „Fever Pitch“, für viele Fußballfans die unübertroffene Darstellung dessen, was Anhänger eines Klubs zu sein bedeutet. Doch in der US-Version soll es nicht um die Liebe zu Arsenal London gehen, stattdessen muss sich Gwyneth Paltrow ihren Mann mit den Boston Red Sox teilen.
„Fever Pitch“-Autor Nick Hornby hat sein Einverständnis gegeben, warum auch nicht? Zeigt der reibungslose Transfer der Filmstoffe doch, dass die Glücksmomente und Depressionen, die der Sport auslöst, diesseits wie jenseits des Atlantiks exakt die gleichen sind. Nur Form und Größe des Balles variieren.
MALTE OBERSCHELP, Jahrgang 1968, lebt als Journalist in Freiburg und findet Baseball faszinierend – auch wenn er es nicht verstehtAndrei S. Markovits, Steven S. Hellerman: „Im Abseits. Fußball in der amerikanischen Sportkultur“, Hamburger Edition, Hamburg 2002, 416 Seiten, 35 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen