bernhard pötter über Kinder: Zittern im Juniorabteil
Manchmal trifft man auf attraktive Frauen, wenn man sie gar nicht treffen will
Keine Ahnung, welcher Teufel mich an diesem Samstagmorgen im ICE Wilhelm von Humboldt ritt. Gerade hatten Jonas, Tina und ich das Kinderabteil mit Hurrageschrei besetzt. Da kam eine dreijährige Laura ins Abteil, im Schlepptau ihre Mutter, „die Nicola“. Die Nicola war eine attraktive Frau, ein bisschen fahrig, ein bisschen überbehütend und sehr gesprächig. Wir hatten Berlin noch nicht verlassen, da wusste ich bereits alles von ihr. Sie war Grundschullehrerin, liebte ihre Katzen und erzog die Laura allein. „Und bei dir?“, fragte sie. „Ist ja auch nicht einfach, so mit zwei Kindern zu verreisen.“
Da passierte es. Ich hörte mich sagen: „Ich bin auch allein erziehend.“ Was natürlich Quatsch ist. Wir sind Familie Mustermann: Mann, Frau, Sohn, Tochter. Guter Durchschnitt. Aber für die Nicola war ich plötzlich ein Leidensgenosse. „Das ist aber hart“, sagte sie. „Bei uns war schon vor der Geburt klar, dass das nichts Dauerhaftes werden würde. Aber bei zwei Kindern?“
Mir wurde heiß. Wie früher vor einer Lateinarbeit. Jetzt war die letzte Chance zu sagen: „Hehe, war nur ein Scherz. Meine Frau Anna hat ihr freies Wochenende.“ Die Nicola würde sich verarscht vorkommen und ich die nächsten zwei Stunden lang als Trottel dastehen. Ich saß in der Falle.
Das Schweigen wurde langsam peinlich. Ich beschloss, die anfängliche Unwahrheit durch Notlügen zu verlängern. Der Melodramatiker in mir schlug vor: „Meine Frau ist bei der Geburt von Tina gestorben“, aber das Überich sortierte das schnell aus. „Ähhh, wir haben uns irgendwie auseinander gelebt“, sagte ich, „und dann haben wir beschlossen, uns erst mal zu trennen.“
Himmel, dachte ich, wenn das Anna hört. Oder wenn die Kinder petzen! Zum Glück spielte Jonas vor dem Abteil mit seinen Autos, und Tina verstand noch nicht, was wir so redeten „Und warum hast du die Kinder?“, fragte die Nicola. „Ähh, meine Frau hat einen Job, bei dem sie viel unterwegs ist. Ich kann mir die Zeit einfach besser einteilen. Und ich bin gern bei den Kindern.“ Eine kleine Wahrheit im Meer der Lügen. „Ich finde das ja total anstrengend, alle diese Entscheidungen allein treffen zu müssen“, schüttete mir die Leidgeplagte ihr Herz aus. Sie habe niemanden zum Anlehnen, niemanden, der sie entlaste, und mit dem Vater von Laura immer nur Ärger wegen des Unterhalts. „Man hat so viel um die Ohren, dass man immer was vergisst. Und wenn nicht, hat man dauernd Angst, etwas zu vergessen.“ „Mmmh“, murmelte ich, „da ist was Wahres dran.“
Kurz hinter Hildesheim musste ich mal aufs Klo. Zwei Minuten zum Nachdenken. Verdammt, wie war ich nur darauf gekommen, diese Geschichte aufzutischen. Beim Autostopp hatte ich mir früher immer vorgenommen, in jedem neuen Auto eine neue Lebensgeschichte zu erzählen. Leuten, die man nie wieder sieht, eine völlig falsche Geschichte zu erzählen, das hatte mich irgendwie fasziniert. Damals. Und heute anscheinend auch noch. War das so schlimm? Andere Leute täuschen Jahrzehnte ihre Familie über ihre wahre Identität. Oder verschaffen sich Doktortitel, die sie nicht haben. Dann kam mir ein Gedanke, bei dem ich vor Angst die nächste Hitzewallung bekam: Was, wenn mein Unterbewusstes einen tief sitzenden Wunsch artikuliert hatte? Was, wenn ich allein erziehend sein wollte?
Der Gedanke war so absurd, dass ich laut lachen musste. Schnell drückte ich die Spülung. Die mitternächtlichen Schreiattacken allein durchstehen, zu jedem Elternabend zu rennen und nie einfach faul auf dem Sofa liegen? Das konnte selbst mein Unterbewusstes nicht wollen, wenn es noch bei Trost war. Ganz im Gegenteil: Ich habe Väter und Mütter, die ihre Kinder allein durchbringen, immer bewundert. Wie schaffen sie es, allein das durchzustehen, woran wir zu zweit manchmal fast scheitern? Warum verkaufen sie ihre Kinder nicht auf dem nächsten Sklavenmarkt?
Als ich ins Abteil zurückkam, hatte die Nicola bereits Tina auf dem Schoß. Sie gab mir einen Zettel. „Ich hab dir meine Telefonnummer aufgeschrieben“, sagte sie und lächelte mich an. „Wir können uns in Berlin ja mal zum Bier verabreden. Wenn wir am gleichen Tag einen Babysitter finden, hahaha.“ Hahaha, sagte ich und starrte auf den Zettel. Ich hatte gedacht, in Göttingen wäre der Zirkus vorbei, wenn wir ausstiegen. Doch jetzt ging das Spiel wohl in die Verlängerung. Wie sollte ich das wohl Anna erklären?
Mein Handy klingelte. „Anna!“, schrie ich, „ich habe dich vermisst.“ Die Nicola guckte fragend. „Das war meine Frau“, sagte ich. „Wir haben uns gerade versöhnt.“ Dann zwängte ich Jonas und Tina in ihre Anoraks und scheuchte sie zur Tür. Selten bin ich so erleichtert aus einem Zug geklettert. Und nie wieder werde ich ohne Zittern ein Kinderabteil betreten. Vielleicht wartet da ja die Nicola.
Fragen zu Kinder?kolumne@taz.de
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