Panik im digitalen Zeitalter

Aneinandergereiht wie ein schlechter Comic: Ulrike Syhas „Autofahren in Deutschland“ wurde im Thalia in der Gaußstraße uraufgeführt, dümpelt aber an der Oberfläche

von KATRIN JÄGER

Lorenz (Stephan Johannes Richter) will immer nur ficken. Ob Marthe (Wiebke Mauss), ob seine Ex-Frau Cleo (Susanne Wolff), ganz egal. Er braucht das, wegen seiner Verfolgungsangst. Ob er mit Marthe im Waschsalon steht und sich vom Mann jenseits der Scheibe beobachtet fühlt, ob er an der Tankstelle steht oder irgendwo in der Stadt – er fühlt sich nicht sicher in Ulrike Syhas Autofahren in Deutschland, das jetzt im Thalia in der Gaußstraße uraufgeführt wurde.

Wo das alles spielt, ist nicht so klar, die Hauptsache ist der Verfolgungswahn, die Folge: ficken. Als Kurzschlussreaktion. Marthe lässt das mit sich machen, Cleo nicht, zieht ein Messer und schiebt es sich in die Scheide. Warum, ist egal. Seit ihrem Autounfall vor einigen Jahren hat Lorenz sie nicht mehr gesehen, und jetzt ist sie plötzlich wieder da.

Hugo (Peter Kurth) kann da auch nichts machen, leidet selbst unter Zwangsvorstellungen, irrt mit dem Mietwagen durch Deutschland, besäuft sich mit seinem bulgarischen Nachbarn und dessen Bruder (Stephan Schad, Benjamin Utzerath).

Zufällig graben die drei eine Bombe aus. Ein altes Ding aus dem Zweiten Weltkrieg. Bei einer Schlägerei – es geht um Marthe –geht die Bombe hoch. Hugo findet sich in einer zum Sauerstoffzelt umfunktionierten Plastikplane wieder, ein Bulgare im Weltraumanzug verpasst Marthe eine Spritze. Vielleicht will er ihr die Organe entnehmen, um sie dann dem FBI zu verkaufen. Angedeutet hat er bereits, dass er diese Tätigkeit ausübt.

Wer jetzt die Handlung noch nicht verstanden hat, hat das Stück verstanden. Denn Autofahren in Deutschland macht keinen Sinn. Der rote Faden besteht aus einer aufgesetzten Melange aus Angst, Verzweiflung und Waffengewalt. Diese Elemente ziehen sich hin wie die Schnur, an der die einzelnen, unzusammenhängenden Szenen wie Perlen einer Kette aneinander gereiht sind. Angst vor der Steuerfahndung, vor der Russenmafia, dem FBI, vor wem auch immer dominiert die Szenerie.

„Was unterscheidet Freund noch von Feind? Irgendwie ähnelt sich alles“, sagt Hugo. Das stimmt. Eine Szene gleicht der anderen, und das macht das Stück monoton. Ihm fehlt ein Spannungsbogen, Regisseurin Monika Gintersdorfer lässt die einzelnen Szenen im M-TV-Schnellschnitt auf die Zuschauer einstürzen. Die Figuren hasten herum, bauen Auffahrunfälle mit zwei rollenden Autositzen, die auf Schienen entlangsausen und dann eben aufeinander prallen, Hugo hängt mal wie eine Fledermaus an dem ellipsenförmigen Loch in der Mauer, die den hinteren Teil der Bühne begrenzt, mal liegt er wie ein Wurm am Boden.

Doch wozu der Aufwand? Skurrile Bilder – okay. Sinnlosigkeit des Daseins – okay. Aber etwas fehlt der Inszenierung, etwas ganz Entscheidendes: die innere Notwendigkeit, die die Geschehnisse verstehbar und fühlbar macht. Ein lauter Schuss aus einer Pistole, die explodierende Bombe genügen nicht.

Gintersdorfer entwickelt zwar Sinn für Humor, beispielsweise, als sie den Airbag-Mann auftreten lässt. Das ist eine Figur, so ähnlich wie das Michelin-Männchen, vollständig aus Luftpolstern bestehend. Er versucht, Marthe zu schützen. Es klappt natürlich nicht. Witzig auch, als der Tankwart Luft statt in den Autoreifen in Lorenz hineinpumpt, und dieser fast abhebt.

Doch kaum freut sich das Publikum, prasselt es auch schon wieder Aktionismus wie im schlechten Comic: Zack, zock, boing. Da nützen nichts die bunten Seventies-Klamotten, da rettet auch nicht die schöne Szene im Ionenbeschleuniger mit ihren leisen Zwischentönen. Wichtige Worte gehen auch im schießwütigen Getümmel unter, etwa die aus Marthes Mund: „Dieses Jahrhundert ist blutig. Aber das Blut ist nicht mehr rot. Und nicht mehr flüssig“, als Anspielung auf eine rohe, unsinnliche, digital dominierte Welt. Genau daran scheitern die Figuren in Syhas Stück. Dass sie vor lauter Digitalität nicht einmal selbst mehr wissen, ob sie existieren, wie und wozu. Die Inszenierung lässt sich auf diesen Konflikt nicht wirklich ein und dümpelt deshalb an der Oberfläche.

Weitere Vorstellungen: 4, 18., 19. Dezember, 10., 16. 17. Januar 2003, Beginn jeweils 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße