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Die hausgemachte Pleite

Um Investitionen und Arbeitsplätze anzuziehen, hat Deutschland Kapital in den letzten Jahren stark entlastet. Ergebnis: Investoren blieben aus, der Staatshaushalt ist zerrüttet

Der jüngste Aufschrei über das Versagen der Koalition ignoriert steuerpolitischeTatsachen

Untergangsstimmung macht sich breit im deutschen Herbst 2002: 31,4 Milliarden Euro Steuerausfälle, harsche Kritik der „fünf Weisen“ – die Deutschland AG wird pleitegeschrieben. Die Regierung scheint am Ende zu sein, bevor sie überhaupt angefangen hat. Hektik allenthalben – doch gemach: Rational ist diese plötzliche Katastrophenstimmung nicht. Denn die unbestreitbare Misere der Staatsfinanzen zeichnete sich seit langem ab: Zwar drückt die lahmende Konjunktur auf das Steueraufkommen und verschärft die Arbeitslosigkeit. Doch jenseits aller konjunkturellen Faktoren ist die drohende Staatspleite (auch) hausgemacht.

Mit Macht schlagen die Folgen einer Steuerpolitik zurück, die den Faktor Kapital beständig ent- und den Faktor Arbeit dafür (bis zur Steuerreform) belastete, in der irrigen Annahme, auf diese Weise Wachstum anregen und Arbeitsplätze schaffen zu können. Die Fakten sind bekannt, werden aber immer wieder verdrängt: Während sich die durchschnittliche Lohnsteuerbelastung der Bruttolöhne von 1960 bis 2000 mehr als verdreifachte, sank die steuerliche Belastung der Gewinn- und Vermögenseinkommen kräftig: Im Jahr 2000 betrug sie nur noch ein Drittel dessen, was 1960 – zu Zeiten des „Wirtschaftswunders“ – den Gewinnen zugemutet wurde. In diesen vierzig Jahren sind die Nettogewinn- und Vermögenseinkommen deutlich rascher gewachsen als die Nettolöhne und -gehälter. Folglich ging der Anteil der Nettolöhne am verfügbaren privaten Volksvermögen, die so genannte Nettolohnquote, kräftig zurück. Spiegelbildlich stieg die Nettogewinnquote auf etwa 30 Prozent.

Obgleich es somit die Gewinne waren, die überdurchschnittlich wuchsen, trug der Faktor Kapital immer weniger zur Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben bei. Besonders dramatisch ist der relative Bedeutungsverlust der (veranlagten) Einkommensteuer: Sie erbrachte 1960 noch rund 31 Prozent des gesamten Steueraufkommens, 2000 aber nur noch verschwindende 2,7 Prozent. Auch die Körperschaftsteuer und die Gewerbesteuern stellten immer kleinere Anteile des Steueraufkommens. Demgegenüber wurde der Beitrag des Faktors Arbeit mehr als verdreifacht: Im Jahre 2000 entfielen über 35 Prozent des gesamten Steueraufkommens allein auf die Lohnsteuer! Auch die Anteile der indirekten Steuern stiegen: die der Umsatzsteuer um fast die Hälfte und die der Mineralölsteuer um über 90 Prozent. Damit tragen heute die „Massensteuern“ drei Viertel des gesamten Steueraufkommens, also dreimal so viel wie der Faktor Kapital. Unter steuer- und verteilungspolitischen Gesichtspunkten ist das höchst problematisch.

Die steuerliche Entlastung des Faktors Kapital wurde getragen von der Hoffnung, auf diese Weise zu Wachstum und zur Schaffung von Arbeitsplätzen beizutragen. Doch diese Hoffnung trog: Der wachsende Reichtum von Unternehmen und Personen kam nur in engen Grenzen der gesamten Gesellschaft zugute: Steuersenkungen allein schaffen weder Wachstum noch Arbeitsplätze, sondern lediglich öffentliche Armut. Dies zeigte bereits 1999 eine Studie im Schweizer Finanzministerium, die jedoch zugleich darauf hinwies, dass offene Volkswirtschaften gezwungen seien, den ruinösen Steuersenkungswettlauf der OECD-Staaten mitzumachen.

Dieser Wettlauf ist eine von den OECD-Staaten ins Werk gesetzte politische Veranstaltung. Angepfiffen wurde er Anfang der 1980er-Jahre von Ronald Reagan, und Deutschland wurde zum schnellsten Läufer: Der effektive durchschnittliche Körperschaftsteuersatz fiel in Deutschland von 1980 bis Mitte der Neunzigerjahre deutlich rascher als in Großbritannien und in den USA. Auch der effektive durchschnittliche Kapitalsteuersatz wurde in Deutschland wesentlich stärker als in Großbritannien und den USA zurückgefahren – 1996 mussten die Briten eine doppelt so hohe Besteuerung des Kapitals hinnehmen wie die Deutschen (auch in den USA langte der Fiskus kräftiger zu).

Deutschland entlastete den Faktor Kapital also rascher als andere OECD-Staaten und wurde so vom Opfer zum Treiber des ruinösen Steuersenkungswettlaufes. Umgekehrt sind die durchschnittlichen effektiven Arbeitsteuersätze in Deutschland überdurchschnittlich gewachsen und lagen 1996 weit über den Sätzen in den USA und in Großbritannien. Genutzt hat das dem Standort Deutschland allerdings wenig: Die Angebote, die der Fiskus ausländischen Investoren gemacht hat, wurden durch die hohen Kosten auf den Faktor Arbeit „ausgeglichen“.

Hinzu kommt, dass der Steuerwettbewerb unmittelbar eine Folge der globalen Liberalisierung der Finanzmärkte ist. Steueroasen und die Akteure auf den Kapitalmärkten setzten die OECD-Länder unter wachsenden Druck, die Besteuerung von Kapital, von Unternehmen und von Spitzenverdienern zurückzufahren. Dieser internationale Steuerwettbewerb, dessen Vorboten schon in den Achtzigerjahren zu spüren waren, nahm in den Neunzigerjahren ruinöse Züge an, wie das OECD-Sekretariat in Paris betont hat. Während die Steuerlast der Unternehmen und der Gutverdienenden abnimmt, zeigen die Mehrwertsteuersätze sowie die von allen Bürgerinnen und Bürgern zu zahlenden kommunalen Abgaben einen gegenläufigen Trend. Auch wächst der Anteil der Steuern auf Löhne und Gehälter, während der Anteil von Steuern auf Einkommen aus Gewinnen und Vermögen rückläufig ist. Es findet, so scheint es, eine fiskalische Umverteilung von unten nach oben statt.

Weltweit agierende Unternehmen nutzen die neuen Möglichkeiten geschickt, gliedern Gesellschaften ein und aus, verschieben Gewinne, wickeln den Intrakonzernhandel zu höheren oder niedrigen Preisen als den Marktpreisen ab – je nachdem, was sich für sie besser rechnet –, machen Gewinne und zahlen keine Steuern mehr.

Es findet, so scheint es, eine fiskalischeUmverteilung von unten nachoben statt

Dies geschieht nicht nur auf legalem Wege: Ende der Neunzigerjahre wurden die staatlichen Einnahmeverluste durch Steuerflucht und -hinterziehung auf über 50 Milliarden Euro geschätzt. Der ohnehin steuerlich geförderte Reichtum richtet damit größeren volkswirtschaftlichen Schaden an als der viel zitierte kleine Mann in der sozialen Hängematte, denn der durch „Sozialmissbrauch“ entstandene Schaden beläuft sich nur auf rund eine Milliarde Euro.

Der jüngste öffentliche Aufschrei über das Versagen der Koalition tut so, als gäbe es diese Tatsachen nicht. Vielmehr lenkt er den Blick genau in die Richtung, aus der die Staatspleite kommt. Nicht um noch mehr Steuersenkungen kann es gehen, nicht um noch mehr Entlastung des Faktors Kapital. Vielmehr ist an den Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth Galbraith anzuknüpfen, der schon vor Jahrzehnten fragte, ob nicht die einseitige Förderung privaten Reichtums als Preis öffentliche Armut habe. Nur in der Perspektive dieser Frage lässt sich die hektische Steuerdebatte entideologisieren und beruhigen. Dafür ist es um Deutschland willen höchste Zeit. KLAUS HEIDEL

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