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Der mit den Tieren schreibt

Allein unter Tigern: Der kanadische Schriftsteller Yann Martel wollte in Berlin für seinen neuen Roman recherchieren, aber nach dem Booker-Preis bleibt ihm dafür nur noch wenig freie Zeit

Ganz hat er noch nicht begriffen, was der Erfolg für sein Leben bedeutet

von CARSTEN WÜRMANN

„Du stehst an einem See … Du siehst einen Elefanten … Du spiegelst dich im Auge des Elefanten.“ – Seltsame Reflexionen, zu denen Yann Martel die Besucher seines Seminars an der Freien Universität Berlin führt. Der kanadische Schriftsteller ist hier in diesem Semester Gastprofessor für Literatur. Meditation statt Dekonstruktion, mit geschlossenen Augen lauschen die Studenten der „Visualisierungsübung“ zum Beginn der Veranstaltung: „Meeting the Other: the Animal in Western Literature.“ Und heute in einem Essay von J. M. Coetzee – industrielle Tierhaltung und massenhafte Menschenvernichtung. Kann und darf man das vergleichen?

Martels neuer Roman „Life of Pi“ – im Februar nächsten Jahres erscheint die Übersetzung bei Fischer unter dem Titel „Schiffbruch mit Tiger“ – beginnt in einem Zoo im südindischen Pondicherry. Hier wächst sein Held Pi Patel auf. Die Familie will nach Kanada auswandern, doch das Schiff sinkt, Pi kann sich auf ein Rettungsboot flüchten, außer ihm noch ein verletztes Zebra, eine Hyäne, ein Orang-Utan und ein Tiger. Nach einigen Tagen sind Pi und der Tiger allein auf dem Boot, nach 227 Tagen auf dem Ozean erreichen sie die mexikanische Küste.

„Life of Pi“ ist eine Parabel in Form einer packenden, höchst realistisch geschilderten Abenteuergeschichte, für die Martel Ende Oktober den Booker Prize erhielt, den prestigeträchtigsten englischen Literaturpreis: Viel Ruhm, 50.000 Pfund und seit neuestem einen Plagiatsvorwurf des Brasilianers Moacyr Scliar, den Martel allerdings nicht nachvollziehen kann. Bereits vor Wochen schilderte er öffentlich, wie eine Rezension über den Roman dieses Autors ihn auf die Idee zu seinem gebracht hatte und hierfür dankt er ihm auch in seinem Vorwort. Diese Rezension ist zwar nicht aufzufinden, aber Moacyr Scliar nimmt die Angelegenheit offenbar gelassen.

Martel kommt derweil kaum dazu, sein Seminar vorzubereiten. „Hemingways Stierkampfroman wäre gut, aber ich schaffe nicht mehr, ihn noch einmal zu lesen. Ich lese langsam. Vielleicht ‚Farm der Tiere‘ als Film?“ – Hat er trotzdem Zeit für ein Gespräch? Ein Blick auf seinen improvisierten Terminkalender: Ab morgen sei er für einige Tage in Dublin, die Woche drauf in New York, doch dazwischen gern, von ihm aus sogar im Berliner Zoo.

Zum Treffen kommt er pünktlich mit dem Fahrrad, er wohnt bei Freunden am Ernst-Reuter-Platz. Jünger sieht er aus als auf dem Foto. Neugierig betrachtet er die Tiere: Alpakas, Zebras, Giraffen, mit ihm staunt eine Gruppe von Erstklässlern. Dann die Affen. Bewundernd starrt er auf den Menschenaffen, der da majestätisch hockt und ganz in sich zu ruhen scheint: „Tiere bringen uns dazu, unser eigenes Dasein zu hinterfragen.“

Die Vorstellung vom Eingesperrtsein sei eine Anthropomorphisierung tierischer Gelüste und Wünsche. Tiere leben im Hier und Jetzt, wenn dies angenehm und zerstreuend sei, warum sollten sie ein unsicheres Leben in der Wildnis vermissen. „Natürlich“, schränkt er ein, „ist der beste Ort für Tiere ihre natürliche Umgebung, aber angesichts unserer unvollkommenen Welt kann man das Leben in einem guten Zoo auch nicht verachten.“

Im Roman habe er das Plädoyer für den Zoo sicherlich übertrieben. Seine Romanfigur Pi sieht den Zoo so wie die Religion einer falschen Idee von Freiheit zum Opfer gefallen. Martel will nicht missionieren, er ist Schriftsteller, und er ist höflich: Es störe ihn nicht, beteuert er im indischen Restaurant, wenn man Fleisch bestellte. Er habe auch nichts gegen die Jagd. Ihm scheint es um die Anerkennung der Würde zu gehen, des Tieres als dem anderen Lebewesen, aber vor allem als dem menschlichen Gegenüber schlechthin.

Geboren wurde der Sohn einer frankokanadischen Gelehrten- und Diplomatenfamilie 1963 in Spanien, danach lebte er in Portugal, Alaska, Kanada, Costa Rica, Frankreich und Mexiko, besuchte aber überall englischsprachige Schulen, sodass aus ihm ein englischschreibender Autor wurde. Während des Studiums – „Philosophie, sicherlich die falsche Wahl!“ – fing er an zu schreiben. Als erstes, erinnert er sich mit Schrecken, ein Drama über die Liebe eines Mannes zu einer Tür, es endete mit Selbstmord. „Ich meinte das nicht einmal ironisch!“

Erste Erzählungen, ein Literaturpreis, Martel beginnt sehr bescheiden von der Schriftstellerei zu leben. 1993 erscheint ein Erzählungenband „Aller Irrsinn dieses Seins“, 1996 dann der Roman „Selbst“ (beide in Übersetzung bei Volk und Welt). Die Erzählungen gefallen ihm immer noch, „Selbst“ weniger, das von der Kritik zwar gelobt, von den Lesern aber wenig gekauft wurde. Der Ton dieses Romans über einen Mann, der sich zur Frau und nach einer Vergewaltigung wieder in einen Mann verwandelt, scheint ihm zu düster, mit „Pi“ wollte er deshalb etwas schreiben, das trotz schrecklicher Geschehnisse ein positives Ende bereit hält. Neben Preis und Kritikerlob genießt er jetzt immerhin auch die Lesergunst, „Life of Pi“ steht in den Verkaufslisten der englischsprachigen Welt weit oben.

Ganz habe er noch nicht begriffen, was der Erfolg für sein weiteres Leben bedeute. Auf jeden Fall wird nichts daraus, einen ruhigen Winter in Berlin zu verbringen und die Stadt kennen zu lernen. Er hofft, für sein nächstes Buch, einen Fabelstoff um einen Esel und einen Affen, hier zum Holocaust recherchieren zu können. Vielleicht im neuen Jahr. Momentan sitzen ihm die Verpflichtungen und vor allem sein Lehrauftrag im Nacken. Martel verabschiedet sich. Morgen ist schon wieder Seminar. Er muss noch zwei Kafka-Erzählungen vorbereiten.

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