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„Tausende kriegen nix!“

Am Sonntag erhält Marina Schubarth, eine 36-jährige ukrainische Berlinerin, für ihr Engagement für die Rechte von NS-ZwangsarbeiterInnen die Ossietzky-Medaille. Eine Ehrung für Arbeit im Elend

von ADRIENNE WOLTERSDORF

Marina Schubarth, die Tänzerin, braucht für das, was sie zu sagen hat, kein hippes Etablissement in Mitte. Die „Droschke“ im tiefen Berliner Westen, wo die Kundschaft noch „Kaffee“ bestellt, ist der Ort, wo sie sich zum Interview treffen möchte. Hier kennt man sie, in der „Droschke“ sammeln die Nachbarn tütenweise Kleidung, die Marina Schubarth dann mit in die Ukraine nimmt. Wann sie wieder dorthin fahren kann, weiß sie noch nicht. „Ich fahre, wenn wieder etwas auf dem Konto ist“.

Geld, Geld, Geld – Geld ist etwas, worum sich in ihren Schilderungen häufig alles dreht. Drehen muss. Dabei geht es der 36-Jährigen meist um etwas ganz anderes. Sie nennt es eine Geste. Seit 1999 kümmert sich Marina Schubarth um ehemalige NS-ZwangsarbeiterInnen aus der Ukraine (die taz berichtete). Rund 1.000 Fälle bearbeitet sie mit der Unterstützung des Berliner Vereins Kontakte e. V. ehrenamtlich. „Die Briefe zähle ich gar nicht mehr, auch nicht mehr die Stapel Papier bei mir zu Hause.“

Es sei schwer, den Menschen hier in Deutschland zu vermitteln: „Hallo, hallo, da sind Tausende, die kriegen nix.“ Denn nach den Schlagzeilen, die das Thema Zwangsarbeiter-Entschädigungen in den vergangenen beiden Jahren machte, ist es still geworden um die Opfer. Marina Schubarth hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, darüber aufzuklären, warum trotz des Beginns der Auszahlungen aus dem Entschädigungsfonds viele der rund 550.000 verschleppten UkrainerInnen leer ausgehen. Oder einfach nicht länger warten können, weil sie krank sind und dringend Hilfe benötigen.

Wann immer sie in ihre Heimat fährt, absolviert Marina Schubarth ein Marathonprogramm. Sie besucht bis zu 15 Opfer und ihre Familien täglich. Reist bei minus 20 Grad von Kiew Richtung Krim und hält dort, wo sie meint, helfen zu können. „Oft ist es so, dass ich ins Haus komme und die Opfer das erste Mal seit 60 Jahren ihre Geschichte erzählen,“ sagt Schubarth, „da muss man ein gutes Gespür haben, es ist oft emotional sehr sehr schwierig.“ Aber wenigstens bringe sie etwas Hoffnung, denn sie sei da und höre zu. Für viele der Opfer sei das wichtiger als Geld. „Das nehmen sie nur mit Scham, sie sind sehr stolz.“ Doch Marina ist für sie ein Zeichen, dass man die ehemaligen Sklaven aus Deutschland nicht vergessen hat. Nie geht Marina ohne etwas Hilfe da zu lassen, ein bisschen Lebensmittel, eine Tasche mit Hose, Pulli, warmen Socken, was die BerlinerInnen ihr eben so mitgeben – und manchmal gute Nachrichten von den deutschen Behörden.

Auf die warten die Omas und Opas, wenn es sein muss, auch die ganze Nacht. „Als ich in einem der Hochhausghettos morgens um drei Uhr ankam, war alles stockfinster. Nur aus einem Fenster leuchtete Licht. Es war bei der alten Oma, die auf mich wartete.“ Viele Opfer würden deshalb nicht anerkannt, weil sie keine Nachweise mehr haben, dass sie als Zwangsarbeiter im Deutschen Reich eingesetzt wurden. So könne sich eine Frau, die in Berlin-Lichtenberg in einer Schule arbeiten musste, nicht erinnern, wie die Straße oder die Schule hieß. „Sie wurde jeden Tag von der Baracke zur Schule gefahren, dort abgeladen und abends wieder zurückgekarrt, wo das genau war, hat sie nie erfahren.“ In solchen Fällen gibt es große Schwierigkeiten, „nicht aus Ignoranz der deutschen Behörden, die sind oft sehr bemüht,“ sondern weil sich nichts mehr rekonstruieren lässt. Nicht selten haben die Opfer ihre Nachweise zudem bei der Rückkehr in die Heimat vernichtet. Nicht aus Hass, sondern weil sie für die misstrauischen Sowjetfunktionäre Kollaborateure waren. „Diese Menschen sind doppelte Opfer,“ sagt Marina Schubart. Das sagt sie öfter.

Jedes anerkannte ukrainische NS-Opfer bekommt knapp 2.500 Euro. Das Geld wird in zwei Runden ausgezahlt. Oft aber brauchen die Menschen es schneller, als die Bürokratie vorgesehen hat. Wenn sie schwer krank sind zum Beispiel. Dann hilft Marina, in Zusammenarbeit mit einer ukrainischen Opferorganisation. Wenn das Geld angekommen ist, „bezahlen sie zuerst ihre Stromrechnungen, dann kaufen sie Medizin, und schließlich werden die Angehörigen unterstützt“.

Ihrer zehnjährigen Tochter möchte die allein erziehende Mutter solche Szenen ersparen. Sie sei noch zu klein, um so viel Elend zu sehen. Das hielten auch Erwachsene nicht immer aus. So seien selbst einem hartgesottenen ZDF-Fernsehmann, der Marina Schubarth im Winter in die Ukraine begleitete, die Tränen gekommen, als er bei einer alten Babuschka saß. Die hatte für die hohen Gäste Kartoffeln gekocht. Doch da sie gewartet hatte, war das Gastmahl wieder eingefroren. Im Zimmer waren es minus 18 Grad.

Warum tut sich eine junge Berlinerin, die selbst gerade wieder einmal arbeitslos ist, das an? „Es ist doch ein Zeichen des Friedens und der Versöhnung“, sagt Marina Schubarth. Sie denkt darüber nicht mehr nach, sie hat sich entschieden, alle diese Probleme, die eigenen und die der tausend anderen, schultern zu wollen. Mithelfer hat sie für ihre Arbeit nie gefunden. Nur der Berliner Verein Kontakte e. V. arbeitet eng mit ihr zusammen und konnte sie sogar für eine Zeit fest anstellen. Das ist nun wieder vorbei. Marina Schubarth, die Tänzerin, die nach einem Unfall nicht mehr tanzen kann, würde auch nicht mit jedem zusammenarbeiten wollen. „Dieser Mensch muss sehr sehr zäh sein,“ sagt sie und schaut, als hätte sie gerade ein Kompliment gemacht.

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