Europa oder auch das Breitgesicht

Zum Nachlesen für Weltenbummler und gegen das Vergessen: Der Sprachforscher Storfer erforschte in den Dreißigerjahren, wie die fünf Kontinente zu ihrem Namen kamen. Seine Beiträge strotzen vor unbekanntem enzyklopädischem Wissen

Man hat nämlich Europa als eine Abwandlung von „erebos“ aufgefasst Man hat Europaaus einem mythologischen Namen deuten wollen

von ADOLF JOSEF STORFER

Vom Namen Europa ist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er eine asiatische Prägung ist. Für die Ionier Kleinasiens mussten das Ägäische und das Schwarze Meer eine Trennung innerhalb der ihnen bekannten Gebiete bedeuten, und daraus erwuchs für sie wahrscheinlich ein Bedürfnis nach einer gemeinsamen Bezeichnung der jenseits dieser Meere gelegenen Länder. Nichts ist daher natürlicher und selbstverständlicher, als anzunehmen, dass sie diese Gebiete nach ihrer Lage im Verhältnis zum Sonnenlauf benannten, und daher zu versuchen, „Europa“ als Abendland zu deuten.

Man hat nämlich Europa als eine Abwandlung von erebos aufgefasst, welches Wort im Griechischen ein phönizisch-hebräisches Lehnwort ist mit der Bedeutung: das Dunkel, Schattenreich, Unterwelt. Andere leiten „Europa“ unmittelbar aus semitisch ereb = Abend ab und setzen dabei als wahrscheinlich voraus, dass die Vorstellung vom Erdteil Europa überhaupt zuerst von den Phöniziern gefasst worden sei.

Nach anderen Etymologen ist das erste Element in „Europa“ das griechische euros = schwarzer Anlauf, Moder, Rost, Schimmel, schwarze Farbe. Man hat den Erdteilnamen Europa auch aus einem mythologischen Namen deuten wollen, aus dem jener Jungfrau Europa, der Tochter des Phönix oder des phönizischen Königs Agenor, die Zeus, in Stiergestalt übers Meer schwimmend, nach Kreta entführt. Aber die entführte Stierbraut hat in der Mythologie ihren allseits bekannten Namen Europa wohl erst nach der Erdteilbezeichnung und deshalb ihr zufolge bekommen.

Solmsen deutet das Wort Europa als „Breitgesicht“ – aus den griechischen Wörtern eurys und ops. Der Ausdruck sei besonders in ebenen, weiten Gegenden gedacht, so auch in Böotien, als Bezeichnung für eine Ebene und übertragen für ganz Böotien, aber auch als Name einer böotischen Erdgöttin. Das Böotien bezeichnende Wort sei dann der Name ganz Mittelgriechenlands und schließlich des ganzen festländischen Griechenlands geworden.

Obschon gegen die Ableitung des Namens für den ganzen Erdteil aus der Bezeichnung der böotischen Ebene grundsätzlich nichts einzuwenden ist (man denke daran, dass die Schweiz nach dem Kantone Schwyz heißt, dass Italia ursprünglich nur der Name der äußersten Südwestspitze der Halbinsel war, dass die Franzosen Deutschland nach den Alemannen, einem einzigen seiner Stämme, als Allemagne bezeichnen), so besticht andererseits aber die Ableitung des Namens Europa aus semitisch ereb = Abend durch ihre überraschende Einfachheit.

Neuestens [das ist vom Standpunkt des Autors Storfer im Jahr 1936 zu verstehen; die Red.] hat allerdings Hans Philipp mehrere Einwände gegen die Deutung von Europa als ereb erhoben. Für die Griechen sei „Europa“ nie ein Westland, sondern ein Nordland gewesen. Nach Philipps Gedankengang ist Europa nicht von Anfang an der Name eines ganzen Erdteils gewesen, sondern haftet er ursprünglich allein im nördlichen Randgebiet der Ägäis und in Nordgriechenland. Europa sei also ursprünglich der Name eines Randgebietes. So will z. B. nach Herodot VII, 8 der Perserkönig sein Heer zur Unterwerfung der Griechen „durch Europa [also wohl: Thrakien] nach Hellas führen“.

Teil 1 unserer Serie „Der Name der fünf Kontinente“ ist ein gekürzter Nachdruck aus dem Buch: „Im Dickicht der Sprache“ von Adolf Josef Storfer. Verlag Vorwerk 8, Berlin 2000 (Erstausgabe von 1937)