: Lena zwischen den Spiegeln
Ein kleines Wunder aus scharf geschnittenen Texten und einer kongenialen Inszenierung: Marius von Mayenburgs „Das kalte Kind“ überzeugte bei Luk Percevals Uraufführung an der Schaubühne
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Sind das denn wilde Tiere da vor uns? Ein Graben, so tief und breit, wie um den Eisbärenfelsen im Zoo, trennt Publikum und Bühne in „Das kalte Kind“ an der Schaubühne. Und so wie in der Gefangenschaft die Tiere hin und her trotten und zwischen den engen Gittern ihrer Welt in traurigen Hospitalismus verfallen, so ist auch der Raum für diese acht Menschen da vorne eng. Ein Labyrinth von Spiegeln grenzt ihre Bewegungen ein, lässt sie aufprallen, stößt sie zurück, bis sie gar über die Kante stürzen. Im Unterschied zu den Eisbären aber sind sie es selbst, die sich dieses Gefängnis gebaut haben.
Marius von Mayenburg, Hausautor der runderneuerten Schaubühne, hat „Das kalte Kind“ geschrieben, der flämische Regisseur Luk Perceval hat das Stück inszeniert. Herausgekommen ist ein kleines Wunder, in dem die scharf geschnittenen Texte und die Inszenierung ineinander greifen wie zwei Partituren. Schon der Text hat einen wunderbaren Rhythmus, der von Wechseln der Tempi, von Schnitten zwischen Dialog und Erinnerung, schnellem Vorlauf und Rückblende, intimer Nahsicht und Raffung der Erzählung lebt. Simultane Motivkreise und Konfliktpotenziale bewegen sich mal nebeneinander her, verhaken sich dann und zerfallen wieder in Einzelteile. Was darin an Geschichten steckt, kehrt irgendwann wieder an seinen Ausgangspunkt zurück: Diese Bewegung in Schlaufen, dieses Gefangensein in den eigenen Projektionen und Erwartungen treibt Luk Perceval in dem engen Raum zwischen den Spiegeln auf die Spitze.
Worum geht es im „Kalten Kind“? Exhibitionismus, Masturbation, Vergewaltigung, Missbrauch, Kuppelei, Kastration, Obsession, Mord – ähm. Das wäre ein unerträglicher Horror, wäre es nicht so stilisiert, fast zum Tanztheater verfremdet wie durch Luk Percevals Zugriff. Manchmal wird es auch richtig grotesk, wenn Perceval die Figuren arrangiert wie ein mechanisches Puppenkabinett: Da stehen sie zu Paaren geordnet mit festgefressenem Grinsen im Gesicht und flüstern sich hinter den zusammengebissenen Zähnen zu, was sie voneinander halten. Und man freut sich ungeheuer an ihren Gemeinheiten und Bosheiten wie an einem guten Witz.
Eine Nacht des Kennenlernens, der Hochzeiten und Todesfälle: Drei soziale Schauplätze werden durchquert. Eine letzte Strecke tasten sich die Schauspieler mit verbundenen Augen auf ihrem hohem Podest voran, zurückgekehrt auf die Bühne nach dem Sprung über die Kante: Möglicherweise sind das gar nicht mehr die Stimmen von Lebenden, möglicherweise ist dies schon ein Tanz von Zombies, die auch nach dem Tod nicht zur Ruhe kommen. Sie laufen mit langen Brotmessern hintereinander her, wie um sich zu rächen an dem, der sie um das Glück und das Leben betrogen hat: am Ehemann, am Vater, am Geliebten.
Man sagt Marius von Mayenburg nach, immer wieder Familiengeschichten zu erzählen. Auch in „Das kalte Kind“ scheint die Familie der Schauplatz, an dem das Unglück und die Angst fortgezeugt werden. Dennoch geht das Thema über die Familie hinaus. Sie ist bloß der Ort, an dem die Skandalisierung aller Beziehungen zuerst aufbricht. Denn das eigentliche Thema scheint die Angst. Eine ungeheuer große Angst, jemand Falschem in die Hände zu fallen.
Zwischen den Spiegeln ist alles sichtbar und nichts. Unentwegt werden Geschlechter entblößt und in fremde Hände gelegt, Hosen runtergelassen und Röcke hochgeschoben, aber einfacher oder klarer wird dadurch nichts. Lena (Stephanie Eidt) zum Beispiel, bedrängt von ihrem Vati (Robert Beyer), von dem Exhibitionisten Henning (Ronald Kukulies) und Johann (Bruno Cathomas), ihrem Bräutigam, erzählt von einer versuchten Vergewaltigung, ihrer Flucht auf die Straße, Verfolgung, Rettung, Verführung. Sie kriecht dabei auf dem Boden herum, unter den Spiegeln durch und geht einem nahe, das arme Kind. Später wiederholen sich die sprachlichen Bilder, aber während sich anfangs die Rollen von Verfolger und Retter noch klar auseinander halten ließen, verwirren sie sich später immer mehr. Die Geschichte ist nicht mehr zu begreifen, wohl aber der Druck, der Lena dazu bringt, sie immer wieder und immer wieder anders zu erzählen. Projektionen und Verschiebungen sind in diesem Spiegelkabinett sozusagen gratis mitgeliefert.
Der ständige Blick auf die Geschlechter, vervielfältigt in den Spiegeln, hat etwas Kaltes und Pornografisches. Von Liebe reden die Figuren zwar manchmal noch, aber ihr Vollzug sieht eher aus wie eine medizinische Notmaßnahme. Vertrauen in die eigene Identität erhält hier so niemand mehr; so viele Spiegel, und keiner zeigt die Bilder, die man braucht. Ein Spiegelstadium, das weder für das Geschlecht, das eins ist, noch für das andere zu befriedigenden Ergebnissen führt.
Die Schauspieler reden in Mikroports, jedes Wort von ihrer einsamen Insel ist klar zu verstehen. Nur lösen sich die Stimmen von den Körpern, und man beginnt danach zu suchen, wer da spricht. So viel Körper sie auch zeigen – sicher über ihn zu verfügen scheinen sie trotzdem nicht.
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