: Regeln gegen den Ladenschluss
Länger einkaufen muss bezahlt werden. Neue Zuschläge für Nacht- undSonntagsarbeit sollten die wahren Kosten ausdrücken und versteuert werden
Superminister Clement will ganz schnell und ohne viel lästige Diskussion eine Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten erreichen. Ökonomen scheinen mehrheitlich eine solche Politik zu unterstützen. Warum eigentlich?
Jedenfalls nicht wegen angeblich zusätzlich entstehender Arbeitsplätze. Die sind bestenfalls Beiwerk und bleiben nach allen Untersuchungen sogar recht unwahrscheinlich. In den Wirtschaftswissenschaften ist aber die Steigerung der Entscheidungsfreiheit aller Akteure ein zentrales Ziel von Politikempfehlungen. Und gesetzliche Einschränkungen davon müssen begründet werden. Solche sind nur aus drei Gründen legitim: wenn eine besonders schutzbefohlene Gruppe betroffen ist oder wenn die Vorschrift eine bessere Zielerfüllung mit sich bringt als ungeregelte Märkte, oder wenn dadurch sonst anzunehmende schädliche Nebenwirkungen auf Dritte vermindert werden.
Das erste Argument einer besonderen gesetzlichen Fürsorgepflicht ist auf den Handel nicht ernsthaft anzuwenden. Die dort Angestellten sind erwachsene Personen, denen wie jedermann und jedefrau prinzipiell Erwerbsalternativen offenstehen. Sie können sich in Interessenverbänden organisieren wie die Beschäftigten in allen anderen Branchen auch. Und wer den selbstständigen Kleinladenbesitzern solche Tätigkeit abends und am Wochenende untersagen möchte, weil damit Selbstausbeutung verbunden wäre, der ist inkonsequent. Er müsste dann fast alle Kioske, viele Kinos mit anspruchsvollem Programm, EDV-Start-ups und manche alternativ betriebene Kneipe behördlicherseits schließen lassen.
Auch die zweite mögliche Einschränkung trifft nicht zu. Der Handel befriedigt die private Nachfrage, und bei Umfragen äußert sich der Wunsch der Käuferinnen und Käufer stark in Richtung Optionsausdehnung. Denn heutzutage treten die Akte des Sich-Informierens, des Sich-Inspirieren-Lassens, des genussvollen Auswählens zunehmend als gleichberechtigt neben das Endziel des simplen Tauschs von Ware gegen Geld. Dass bisher jeder sein gewünschtes Konsumgut weitgehend problemlos vor sechs Uhr abends erwerben konnte, dieser brave Einwand deutscher Gewerkschaften ist genauso irrelevant wie das früher von den englischen Pub-Besitzern vorgebrachte Argument, ein Durst könne doch auch vor elf Uhr abends gelöscht werden.
Kritiker geben zwar zu, dass kurzfristig die längeren Öffnungszeiten den Kundenwünschen entsprächen, ein dadurch beschleunigter Konzentrationsprozess im Handel aber langfristig genau diesen Interessen schade. Empirisch gilt jedoch eher das Gegenteil: Regulierungsfreudige Länder wie Deutschland haben einen hochkonzentrierten Handel und wenig Selbstständige, bei liberaleren Staaten wie den USA ist es umgekehrt.
Bleibt noch der Einwand eventueller negativer Auswirkungen auf Dritte und Drittes. Hier wird man schon eher fündig. Arbeitsmediziner warnen vor länger andauernder Nacht- und Schichtarbeit; zudem können flexibilisierte Arbeitsbedingungen eine gewisse Störung sozialer Rhythmen mit sich bringen. Völlig freie Arbeitszeiten bedeuten, dass sich die gemeinsam mögliche Zeit für Paare, Eltern mit Kindern oder Freundesgruppen stark verknappt und dass die menschlichen Beziehungen darunter leiden – mit all den negativen Folgen, die soziale Erosion mit sich bringen kann.
Nur deshalb würde eine aufgeklärte Wirtschaftswissenschaft hier durchaus Regulierungsbedarf akzeptieren. Sie würde zugleich aber darauf drängen, dass die gesetzlichen Einschränkungen für alle Arbeitsplätze gelten müssen und nicht nur für die aus einer Branche mit starker Lobbymacht. Die Spätschicht im Industriebetrieb, die Nachtschwester im Krankenhaus, aber auch die Thekenbedienung in der Disco – sie alle unterliegen gleichermaßen dieser Einbuße an Lebensqualität und wären für eine Verbesserung ihrer Situation sicher empfänglich. Viel zu lange ist in der Diskussion die gegenwärtig herrschende Ungerechtigkeit zwischen regulierter und unregulierter Arbeit unthematisiert geblieben.
Wie wichtig die Störung privater Zeitmuster durch eher ungewöhnliche Arbeitszeiten ist, hängt davon ab, ob die sozialen Verbindungen noch sehr starr sind oder bereits stark im Fluss begriffen. In Deutschland beobachten wir heute eine Vielzahl von Lebensvarianten, die zwar noch einen Schwerpunkt im Normalarbeitstag erkennen lassen, aber zunehmend auch andere Gruppen hervorbringen. Deren Angehörige sind vielleicht eher abends und nachts aktiv. Oder sie haben gelernt, stoßweises Arbeiten mit unregelmäßigen Phasen der Erholung, dann aber intensivierten Sozialkontakten zu kombinieren.
Der aufgeklärte ökonomische Ratschlag an die Politik wäre deshalb, eine Kernarbeitszeit weiter zu schützen, aber Abweichungen davon für niemanden strikt zu unterbinden, sondern sie für alle ohne Ansehen der jeweiligen Profession je nach Belastung zu verteuern. Wegen der zusätzlichen Gesundheitskosten, vermehrten Infrastrukturausgaben und der Belastungen des zunehmend als wichtig erkannten Sozialkapitals ist eine staatliche Intervention legitim und geboten. Sie könnte etwa die Form einer Gesetzesvorschrift annehmen, nach der Arbeit in der Nacht und am Wochenende mit Mindestzuschlägen unabhängig von tariflichen Branchenvereinbarungen versehen werden. Solche Zuschläge sollten – ebenso wie die bereits bestehenden, tarifvertraglich festgelegten – auch steuerpflichtig werden. Denn es fallen ganz direkt Kosten für die Allgemeinheit an. So müssen Kinderbetreuungseinrichtungen ihre Öffnungszeiten verlängern, Kranken- und Rentenversicherungen für die Gesundheitsschädigungen aufkommen. Das sollte aus ökonomischer Sicht von den Verursachern ausgeglichen werden. Rot-grüne Wähler kennen das Prinzip. Es ist genau wie bei der Ökosteuer, wo schädliche Nebenwirkungen in den Preis eingehen.
Die Koalition hätte sich also nicht zwischen einer rein rückwärts gewandten Besitzstandswahrung und einem bedingungslosen Nachgeben gegen neoliberale Marktüberhöhung zu zerreiben. Für eine souverän agierende Politik, die gelernt hätte, sowohl die Bedeutung von Effizienz wie die von Gerechtigkeit zu thematisieren, wäre aus dem Thema Ladenschluss schon einiges Kapital in der öffentlichen Meinung zu schlagen. Der Schnellschuss aus der Hüfte von Superminister Clement jedenfalls ist wenig beeindruckend.
GERD GRÖZINGER
Der Autor ist Dozent für Volkswirtschaftslehre an der Uni Flensburg. Derzeit bereitet er eine Konferenz über „Ungleichheit und Umverteilung“ vor. 1998 erschien sein Buch „Konstitutionelle Politische Ökonomie“ (mit Stephan Panther).
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