: Innerlich lesen
Katharina Schmidts „Augentapeten“ in der Galerie M+R Fricke entfalten eine simple Rätselgeschichte des Sehens
Ganz deutlich ist der Titel von Katharina Schmidts Ausstellung: GAS-TELEFON-HUNDERTTAUSEND RUBEL eine Reminiszenz an die Moderne: Er entstammt einer Passage aus „Die Falschmünzer“ – André Gides berühmtem Roman über eine Gruppe von Schülern in Paris am Anfang des letzten Jahrhunderts.
Der Widerstreit zwischen der „wirklichen“ Welt und der Vorstellung, die wir uns von ihr machen, den Gide in seiner Detektivgeschichte beschwört, erscheint bei Schmidt zunächst in geordneten Bahnen: So hat sie die gesamte Fassade der Galerie M+R Fricke in der Linienstraße mit einer „Augentapete“ bedeckt und dabei auch über Fenster und Türen tapeziert. „Ich lese gerne mit den Augen und nicht mit den Ohren. Ich lese gerne innerlich und nicht äußerlich“, merkte Gertrude Stein an, Ikone jener Moderne, der auch Gide angehört. Und bald wird deutlich, worum es bei dieser Ausstellung geht – um eine Rätselgeschichte des Sehens, bei der sich Form und Inhalt, Inneres und Äußeres verkehren lassen.
Dabei erscheint hier auf Anhieb alles sehr einfach. Der Fundus, auf den Schmidt zurückgreift, entstammt zumeist alltäglichen Zusammenhängen, er findet sich auf Verpackungen, Werbeprospekten oder in Gebrauchsanweisungen. Bei der Auswahl ihrer Vorlagen konzentriert sie sich auf die reduzierte Formensprache des industriellen Grafikdesigns, mit dem Dinge auf simpelste Weise symbolisiert werden sollen. „Öffne die Augen“, bedeutet uns Schmidts „Augentapete“ und verschließt das Innere der Galerie vor neugierigen Blicken. Nur bei Dunkelheit scheint das Licht durch die Tapetenmembran hinaus auf die Straße. Im Inneren erwartet den Besucher ein merkwürdiger Reigen unterschiedlichster Motive.
Auf mit der Schablone produzierten Zeichnungen überlagern sich Straßenkreuzungen mit Diamanten, Autos scheinen durch Baumkronen zu schweben. Muster aus Hosen, Kleeblättern oder Fledermäusen verschwinden und erscheinen auf der nächsten Zeichnung in neuer Kombination. Der Festlegung auf eine gültige Definition von Wirklichkeit stellt Schmidt die Möglichkeiten der Konstruktion entgegen. Die Geschichten, die hierbei entstehen, sind ebenso unkompliziert wie fantastisch. Wie schrieb schon Gertrude Stein: „Eines der erfreulichsten Dinge für diejenigen unter uns, die schreiben oder malen, ist, das tägliche Wunder zu erfahren. Es kommt.“
OLIVER KOERNER VON GUSTORF
Bis 21. 12., Galerie M+R Fricke, Linienstr. 109, Di.–Fr. 14–19, Sa. 12–16 Uhr
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