piwik no script img

Recherchen zu einem Mythos

Ihre Heldin Kay Scarpetta machte die Thrillerautorin Patricia Cornwell reich und berühmt. Jetzt ermittelt sie selbst in einem realen Fall: Sie behauptet, beweisen zu können, wer Jack the Ripper war

Die Prostituierten kassierten drei Pence, manchmal auch nur einen alten Laib BrotDie letzten Worte waren „I am Jack …“ – dann starb der Delinquent

von RALF SOTSCHECK

Es war kein schöner Anblick, der sich den Polizisten bot. „Die Kehle war mit einem Messer durchgeschnitten, sodass der Kopf fast vom Körper abgetrennt war“, hieß es in den Illustrierten Polizeinachrichten. „Der Unterleib war aufgerissen, beide Brüste waren abgeschnitten, Leber und Därme herausgerissen.“ Mary Jane Kelly war am 9. November 1888 das fünfte und letzte Opfer von Jack the Ripper.

Er ist der berühmteste Mörder der Geschichte, es sind unzählige Bücher über ihn geschrieben worden, seine Taten wurden mehrfach verfilmt. Das Interesse hat nie nachgelassen – auch deswegen, weil der Täter nie gefasst wurde. Wenn es nach der US-amerikanischen Bestsellerautorin Patricia Cornwell geht, kann die Akte nun geschlossen werden: Cornwell behauptet, sie habe lückenlose Beweise. Der in München geborene impressionistische Maler Walter Sickert soll der Mann sein, der die fünf Prostituierten im Herbst 1888 auf der berüchtigten Viertelmeile im Londoner East End grausam ermordet hat.

Das East End galt im Viktorianischen Zeitalter als „dunkelstes London“. Die Gegend war berüchtigt für ihre Slums, in denen sich acht oder neun Menschen ein Zimmer teilen mussten, oftmals auch noch mit Hühnern und Schweinen. Jeden Abend standen achttausend Männer, Frauen und Kinder Schlange vor den mehr als 200 Herbergen, um ein Bett für die Nacht zu ergattern. Das kostete vier Pence. Für die Hälfte durfte man sich an ein Seil anlehnen, das quer durch ein Zimmer gespannt war. Die Überbevölkerung des East End wurde durch die Judenpogrome in Russland und anderen Ländern Osteuropas verschärft, weil viele Juden nach London flohen.

Die Prostituierten kassierten drei Pence, manchmal auch nur einen alten Laib Brot. Ihr beliebtester Arbeitsplatz war die Kirche St. Botolph in Aldgate, die im Volksmund „Nuttenkirche“ hieß. Sie liefen tagaus, tagein um die Kirche herum, weil die Polizei sie wegen Prostitution verhaftet hätte, wären sie stehen geblieben.

Ausgerechnet Jack the Ripper war ein Katalysator für soziale Veränderungen und für die Geburt des Boulevardjournalismus. Einige Blätter richteten tägliche Ripper-Kolumnen ein. Da die Morde in der ganzen Welt Schlagzeilen machten, wurden auch die Zustände im East End weit über die Grenzen Englands bekannt. Die Regierung war daher gezwungen, die schlimmsten Bruchbuden abzureißen und sanitäre Einrichtungen sowie Straßenbeleuchtung zu installieren.

Die Verbesserungen hielten sich allerdings in Grenzen. Das Nachbarviertel des East End, die City of London, wo der vorletzte Ripper-Mord geschah, war damals der reichste Wahlkreis Englands, Tower Hamlets im East End der ärmste. So ist es immer noch. Die Krypta der Kirche St. Botolph dient heute Obdachlosen als Unterschlupf. Damals wie heute grassiert Tuberkulose. Das Viertel hat nach wie vor die höchste Säuglingssterblichkeit und die niedrigste Lebenserwartung Englands. Und die Prostituierten arbeiten noch immer in den Straßen, wo ihre Kolleginnen schon vor 300 Jahren auf Kundschaft warteten. Heutzutage sind manche von ihnen erst 14, 15 Jahre alt, Flüchtlinge aus Russland und dem ehemaligen Jugoslawien.

Die Spekulationen, wer sich hinter Jack the Ripper verbirgt, haben in den 114 Jahren seit den Taten an Intensität nicht nachgelassen. Patricia Cornwell geht ein hohes Risiko ein mit ihrem Buch, in dem sie den Degas-Schüler Walter Sickert bezichtigt. „Wenn jemand nachweist, dass ich Unrecht habe, sehe ich nicht nur schlecht aus, sondern verliere meinen guten Ruf“, sagt sie.

Sickert wurde 1860 in München geboren, wanderte aber schon im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern nach England aus. Dort wurde er später zu einem gefeierten Künstler, er gilt als bedeutendster Maler zwischen Turner und Bacon. Cornwell hat ein Vermögen ausgegeben, um ihn posthum als Ripper zu überführen.

Sie kaufte Bilder des Malers, einige Autografen und sogar seinen Schreibtisch. Zwar standen Cornwell auf Briefen, die von Scotland Yard archiviert wurden, DNS-Spuren eines Mannes zur Verfügung, der behauptete, der wahre Ripper zu sein. Aber schon damals waren 220 Bekennerschreiben bei der Polizei eingegangen. Diesem lag freilich eine halbe Niere bei, die angeblich von Mary Jane Kelly stammte. Ob das stimmte, konnte die Polizei mit den damaligen Methoden nicht zweifelsfrei feststellen. Doch selbst wenn der Brief authentisch ist, fand Cornwell keine DNS in den Besitztümern des Künstlers, mit der sie die Ripper-DNS vergleichen konnte. Bei ihrer Suche nach verwertbaren Spuren des Künstlers schlitzte sie sogar ein Gemälde auf, was ihr in der Kunstwelt den Spitznamen „Patricia the Ripper“ einbrachte. Auf einem Brief von Sickert fand eine gentechnische Analyse zwar Übereinstimmungen mit dem Ripper-Brief, doch da Sickerts Brief eine ganze Reihe von DNS-Spuren verschiedener Menschen enthielt, sei die Übereinstimmung einer kurzen DNS-Sequenz nichts als Zufall, sagen die Experten.

Der Brief ist für Cornwell dennoch ein wichtiges Beweismittel, enthält er doch ein seltenes Wasserzeichen – dasselbe wie der Ripper-Brief. Darüber hinaus habe sich Sickert durch seine Gemälde selbst entlarvt. Besonders sein Gemälde „Mord in Camden Town“ erregte Cornwells Aufmerksamkeit. Man sieht eine nackte Frau am Sofa, davor einen bekleideten Mann, der sich die Hände zu waschen scheint. Das Bild ähnelt den Fotos der Mordkommission, die nach dem Tod von Mary Jane Kelly aufgenommen wurden. In einem anderen Fall hat die Frau in Sickerts Gemälde ähnliche Gesichtsverletzungen wie das vierte Opfer Catherine Eddowes. Auch die Pose einer Frau mit Perlenkette sei identisch mit den Polizeibildern. „Dieser Maler malte nichts, was er nicht gesehen hat“, sagt Cornwell. Ein Motiv habe er auch gehabt. Der Maler habe an einer Penisverformung gelitten, weshalb aus seinen drei Ehen kein Kind hervorgegangen sei. Sollte Impotenz einen Serienkiller gezeugt haben?

Für Patricia Cornwell ist es jedenfalls ein überzeugender Mordgrund. Mit ihren Thrillern um die Heldin Kay Scarpetta, die bei ihrer Arbeit die forensische Medizin einsetzt, wurde sie zur erfolgreichsten Beststellerautorin der Welt. Ihr Hollywood-Abenteuer währte allerdings nur kurz. Nachdem sie sich volltrunken mit ihrem Mercedes dreimal überschlagen hatte, aber unverletzt blieb, verließ sie die US-amerikanische Traumfabrik. „Ich glaube, ich hatte damals Todessehnsucht“, sagt sie. „Ich glaube, ich kam mit meinem Erfolg nicht klar.“ Ihr Outing als Lesbierin war spektakulär: Ihre Liebhaberin, eine ehemalige FBI-Agentin, lieferte sich einen Schusswechsel mit Cornwells Mann, als der sie in einer Kirche zur Rede stellen wollte. „Es ist eine Tragödie, dass sie daneben schoss“, sagte Cornwell danach. Ihr Vermögen wird auf 300 Millionen Dollar geschätzt. Da fallen die sechs Millionen Dollar, die sie für die Sickert-Recherche ausgab, nicht weiter ins Gewicht.

Richard Stone, der Kurator der großen Sickert-Retrospektive in der Royal Academy 1992, hält Cornwells Theorie für blanken Unsinn. „Sie ist so besessen, dass sie nicht davor zurückschreckt, ein Gemälde eines großen Künstlers zu zerstören, nur um ihrer albernen Theorie zu Glaubwürdigkeit zu verhelfen“, sagt er. „Er nahm stets Fotografien als Vorlage, er war einer der ersten Künstler, die das gemacht haben.“

Es ist freilich nicht das erste Mal, dass Sickert in Verbindung mit den Whitechapel-Morden gebracht worden ist. Prinz Albert Victor, der bisexuelle Enkel Königin Viktorias, soll sich in Sickerts Modell Annie Crook verliebt und, als sie schwanger wurde, sie heimlich geheiratet haben. Die entsetzte Verwandtschaft soll daraufhin den königlichen Leibarzt und Freimaurer William Gull dazu angestiftet haben, Crook durch eine Lobotomie auszuschalten. Mit Hilfe seines Freundes Sickert soll Gull die Bekannten Annie Crooks, die fünf Prostituierten, ermordet haben, weil sie von der heimlichen Hochzeit wussten. Angeblich sei durch eine genetische Untersuchung der Nachkommen von Crooks Sohn eine direkte Verbindung zu den Windsors herzustellen. Ein Mann, der sich Joseph Sickert nannte und behauptete, der uneheliche Sohn des Malers zu sein, erklärte, sein Vater habe ihm kurz vor seinem Tod 1942 seine Verwicklung in die Morde gestanden. Also doch keine Penisverformung?

Mit den Theorien über Jack the Ripper ist es wie mit den Köpfen der Hydra aus der Mythologie: Sobald eine vernichtet ist, wachsen zwei nach. War es möglicherweise der Prinz selbst? Oder war es James Stephen, der Cousin von Virginia Woolf, mit dem Albert Victor eine Affäre hatte? Stephen verlor nach einem Unfall seinen Verstand und wurde Patient von William Gull.

Vielleicht war es auch Thomas Cream, der US-amerikanische Arzt, der 1892 für die Morde an Prostituierten in Lambeth gehängt wurde. Seine letzten Worte waren: „I am Jack …“ Sein Geständnis, wenn es denn eins werden sollte, blieb unvollständig, weil das Seil des Henkers ihm den Hals zuschnürte. Oder war es Robert Stephenson, ein Teufelsanbeter, der damals im Londoner East End sein Unwesen trieb? Er wurde zweimal wegen der Ripper-Morde verhaftet, jedoch wieder freigelassen.

Cornwell, was bleibt ihr auch anderes übrig, hält alle diese Theorien für falsch. „Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass Walter Sickert diese Mordserie verübt hat. Er ist Jack the Ripper. Hätten Geschworene diese Indizien damals gesehen, hätten sie gesagt: Hängt ihn!“

Patricia Cornwell: „Wer war Jack the Ripper?“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2002, 412 Seiten, 22,90 €

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen