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Eine vom Frost versiegelte Welt

Schnee schafft eine eigene Dialektik, und Eislandschaften sind eine gute Kulisse für Familientragödien und Todessehnsucht. Aus Igloolik, einem Ort am nördlichen Rand Kanadas, kommt der schöne Spielfilm „Atanarjuat. Die Legende vom schnellen Läufer“

von CRISTINA NORD

Die Kamera fährt über einen zugefrorenen See. Etwa einen halben Meter Abstand hält sie zu der Eisschicht, Schnee treibt vor ihr her. Bald ist ein rosa Schimmer unter dem Eis auszumachen, ein Kleid, ein Körper, ein Kopf, die Augen sind geschlossen, das Haar ist blond. Die, die am Ende von Gus van Sants „To Die For“ (1995) ein kaltes Grab gefunden hat, hieß einmal Suzanne Maretto und war die Wetterfee des regionalen Fernsehsenders von Little Hope, New Hampshire. „K-A-L-T“ buchstabiert ihre Schwägerin, als sie Suzanne (Nicole Kidman) beschreiben soll. Später dreht sie, die leidenschaftliche Schlittschuhläuferin, ihre Runden auf dem See.

Im Kino bilden Schnee und Eis einen guten Hintergrund für Familiendramen. In Atom Egoyans „Das süße Jenseits“ (1997) etwa oder in Ang Lees „Der Eissturm“ aus demselben Jahr. Lee siedelt seinen Film in den frühen Siebzigern an. Seine Protagonisten, zwei Ehepaare aus Connecticut, versuchen sich an einer hilflosen sexuellen Revolution. Sie sind dabei so starr wie die unter dem Blitzeis gefrorene Landschaft Neuenglands. Zwar bemühen sie sich, ihre Familien an der Oberfläche intakt zu halten. Doch unter dieser Oberfläche breiten sich Betrug und Entfremdung aus. Der bürgerliche Reflex, dem zufolge der Schein gewahrt bleiben muss, trifft sich hier mit dem Motiv der Schnee- und Eisschichten, die den Boden bedecken. Und je glatter die Straßen sind, umso schneller schlittert es sich in die Katastrophe.

In „Das süße Jenseits“ kommt ein Schulbus von der Fahrbahn ab, bevor er in einem zugefrorenen See versinken wird. Um diesen Unfall herum gruppiert sich ein Netz von Zeitebenen und Erzählsträngen, und wie bei Lee haben die Figuren vieles zu verbergen: Betrug, Sucht, Inzest. Der Winter schafft eine eigene Dialektik von Innen und Außen, insofern die Kälte die Menschen in den Häusern zusammendrängt. In der Enge entwickeln sich unselige Energien, Übergriffe und Geheimnisse. Egoyan führt einen Anwalt in dieses Szenario, und dieser Mann möchte dem Unfall auf den Grund gehen. Er fahndet also in der verschneiten Landschaft nach den Spuren eines Verbrechens, kommt aber der Wahrheit kein Stück näher. Die Schneedecke kann Spuren sowohl betonen als auch verbergen, und in „Das süße Jenseits“ gibt sie nichts preis. Doch damit lässt sie den Anwalt erst recht an ein Verbrechen glauben: Je weniger sie offenbart, umso mehr stellt er sich vor. Sie, die Schneedecke, ist seine Projektionsfläche, so wie sie in anderen Jahrhunderten den Pionieren und Polarforschern Projektionsfläche war: ein weißes Blatt, jungfräulich, bereit für die erste Fußspur, die ein Eigentumsverhältnis markiert.

Ein weißes Blatt

Aus Igloolik, einem Ort am nördlichen Rand Kanadas, kommt jetzt ein neuer, wunderbarer Schneefilm: „Atanarjuat. Die Legende vom schnellen Läufer“. Es ist der erste Kinofilm, den ein Team von Inuit gedreht und produziert hat. Er wird daher als ein Stück filmischer Identitätspolitik vermarktet, was in die Irre führt. Schulfilme über die Inuit arbeiten mit denselben Argumenten. „Ein guter Geschichtenerzähler ist für uns genauso wichtig wie ein guter Jäger“, sagt zum Beispiel der Erzähler in „Der hohe Norden“, einer für die Kuppelleinwand des Imax-Kinos gedrehten Dokumentation. Ein fataler Eindruck entsteht dabei: Wenn die Legenden, die Geschichten und Sagen der Inuit nichts anderem dienen als der Selbstvergewisserung, dann ist das nicht nur eine ausgeprochen eindimensionale Sicht. Kunst wird nicht als solche wahrgenommen, sondern monokausal, als gruppenstabilisierender Faktor hergeleitet. Mit derselben Haltung, mit der „Der hohe Norden“ die Fiktionen der Inuit erklärt, widmet sich der Film dem Brunftverhalten der Karibu. Das ist eine Anmaßung, von der „Atanarjuat“ – der identitätspolitischen Selbstbeschreibung zum Trotz – weit, weit entfernt ist.

Näher dran ist der fast dreistündige Film an den Familiendramen Egoyans und Lees. Mit dem Unterschied, dass Zacharias Kunuk, der Regisseur, die Geschichte nicht in der Gegenwart, sondern in einer nicht näher definierten Zeit ansiedelt. Im Mittelpunkt stehen Atanarjuat (Natar Ungalaaq), ein junger Mann, und die Fehde, die ihn mit Oki (Peter-Henry Arnatsiaq) verbindet. Wir bewegen uns in einer Vergangenheit, die 150 Jahre her sein könnte oder 500 Jahre oder noch länger. Es liegt daher auf der Hand, dass Kunuk nicht den Fährten des bürgerlichen Trauerspiels folgt, sondern denen der griechischen Tragödie.

In drei Phasen entfaltet sich „Atanarjuat“. In der ersten scheint die Sonne, die Schneedecke hat keine Lücken, die Helligkeit der Außenaufnahmen kontrastiert mit den Chiaroscuro-Effekten der Innenaufnahmen. In der zweiten ist der Schnee geschmolzen, das klare Licht bleibt der kargen Landschaft erhalten. In der dritten Phase ist der Winter zurückgekehrt, das Licht ist diesmal fahl, der Horizont entrückt. Dass die Schneelandschaft wie eine zweite Leinwand ist, wird hier am deutlichsten. Zwischen und innerhalb der einzelnen Phasen verstreichen die Jahre, ohne dass es der Erklärung bedürfte: Zacharias Kunuk vermeidet unnötigen Ballast.

Der erste Gewaltakt

Zu Beginn nehmen der Innen- wie der Außenraum umso deutlichere Konturen an, je unvermittelter sie aneinander geschnitten sind: ein Stück winterlicher Dialektik, wie sie auch „Das süße Jenseits“ betreibt. Im Innern der Iglus geht die Kamera nah heran an die Figuren, zeigt ihre Gesichter im Widerschein der mit Tran betriebenen Lampen, die Tätowierungen auf den Wangen der Frauen, die Handgriffe, die bei der Zubereitung des Robbenfleischs anfallen. Das könnte fast ethnografisch sein, hörte man nicht die Stimme einer Frau. „Das Böse kam über uns wie der Tod“, sagt Panikpak (Madeline Ivalu). Das Böse, das ist der Mord am Führer der Nomadengruppe, der erste Gewaltakt, der – wie in der „Orestie“ des Aischylos – immer neue Gewaltakte hervorrufen wird. Kunuk inszeniert ihn so, dass die Bilder keinen Halt gewähren. Zwar befindet man sich mit der Kamera im Iglu, dem Schauplatz des Verbrechens, doch hinterher weiß man kaum mehr als die Kinder, die vor der Tat aus dem Iglu geschickt wurden.

Draußen überwältigen die Totalen: eine weite, weiße Fläche, das kräftige Azur des Himmels, das gleißende Licht. Nicht zu sehen ist eine Furcht, die man der Dunkelheit zuschlägt, hier ist es an der Helligkeit, die Sicht zu nehmen. Und galt bisher das Gesetz, dass Landschaftsaufnahmen und digitale Videotechnik sich nicht vertragen, so zeigt „Atanarjuat“ das Gegenteil: Indem die Bilder auf die Tiefenschärfe und die Brillanz des normalen Filmmaterials verzichten, retten sie sich vor der bloßen, schwelgerischen Landschaftsmalerei. Für die Leistung Norman Cohns, des Kameramanns, hat „Atanarjuat“ vor anderthalb Jahren in Cannes die Caméra d’Or erhalten.

Im Kontrast zur Weite der Schneefelder stehen die Leiber. Obwohl sie in fast allen Szenen von mehreren Fellschichten umhüllt werden, hebt „Atanarjuat“ die Körperlichkeit der Figuren in den Vordergrund. Ihre Bewegungen haben etwas Unbeholfenes, so wie die von Astronauten oder, vor hundert Jahren, die von Tauchern. Das Schnauben, das die Kälte vertreibt, der Rotz, der sich beim Atmen bildet, das Essen des mitunter rohen Fleischs: all dies rückt oft ins Bild, und Zacharias Kunuk nimmt sich die Zeit, die alltäglichen Verrichtungen und Gesten zu zeigen. Wie sehr die Körper in der tiefgefrorenen Umwelt gefährdet sind, hält „Atanarjuat“ stets gegenwärtig, etwa dadurch, dass sich eine Hand kaum je den Weg durch Fellschichten bahnt. Wenn sie es tut, dann nur deswegen, weil sie rasch unter einer anderen Fellschicht verschwinden will.

Es nimmt nicht wunder, dass eine vom Frost versiegelte Welt Todessehnsüchte und -fantasien heraufbeschwört. Bei Egoyan ist das so, bei Lee, in geringerem Maße auch bei van Sant. In Takeshi Kitanos jüngstem Film, „Dolls“ (2002), wandert ein Liebespaar durch eine japanische Berglandschaft, dem Weiß, dem Nichts, dem Untergang entgegen. Und Mary Shelley schickte das Geschöpf des Doktor Frankenstein am Ende ihres Romans ins Eismeer. „Das Eis soll mich zum Eis des Nordpols tragen, wo ich den Scheiterhaufen mir errichte, um diesen ungestalten Leib zu Asche zu verbrennen!“

Das Eis wird dünn

In „Der hohe Norden“, dem Schulfilm fürs Imax-Kino, wird ausgiebig aus „Nanook of the North“ zitiert, Robert Flahertys 1921 fertig gestelltem Klassiker des ethnografischen Dokumentarfilms. Über dessen Hauptfigur, Nanook, sagt ein sich als Enkel ausgebender Inuit: Eines Tages sei Nanook losgezogen gen Norden, um Karibu zu jagen. „Er kam nie mehr zurück.“

In „Atanarjuat“ findet sich der Protagonist in einer Szene nackt auf dem Eis. Er rennt, hinter ihm die Verfolger, die seinen Tod wollen, vor ihm wird das Eis dünner, an manchen Stellen öffnet sich die Schicht schon, der Gejagte muss springen, einer der Verfolger bricht ein, der Nackte läuft weiter und weiter. Das Eis wird ihn nicht besiegen, und die Männer hinter ihm auch nicht.

„Atanarjuat. Die Legende vom schnellen Läufer“. Regie: Zacharias Kunuk. Mit Natar Ungalaaq, Pakka Innukshuk, Sylvia Ivalu u. a., Kanada, 172 Minuten

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